Hier verwendet als Sammelbegriff für wandernde Textkünstler, idealtypisch überhöht in der Trinität von:
Erzähler (griechisch
rhapsodos) wie etwa
Thamyris
der Thrakier, eine Figur bei Homer (Ilias 2, 597-598), die Überlieferungen, Tradiertes, Erzählungen als `oral history´ textgenau bewahrten, erkennbar am
Stab (griechisch rhapdos), der das Rederecht symbolisiert.
Dichter (griechisch poiētḗs), also Textschmiede von Geschichten, die aktuelle Ereignisse und Personen einbanden, lobend oder schmähend wie etwa Homer
.
Sänger (griechisch aoidós Àöden´), die ein Instrument benutzen wie die Harfe oder Leier, und damit Texte und Töne verbanden wie etwa Orpheus
.
Diese drei Eigenschaften werden in den ältesten Quellen zwar unterschieden, korrespondieren jedoch nicht eineindeutig mit immer denselben Personen. So mag je nach Fähigkeiten, Situation und Funktion ein Wanderpoet von einer Rolle in die andere gewechselt haben; Michaela Esser
nennt sie Wortprofessionisten:
griechische
Rhapsoden und der Mythos von
Orpheus
;
lat. mimus (pl. mimi) aus griechisch μῖμος, mîmos
lat. histrio (pl. histriones)
J. D. A. Ogilvy
Mimi, Scurrae, Histriones: Entertainers of the Early Middle Ages.
Speculum 38.4 (1963) 603-619.
Online
keltische Barden ‘praise-maker’;
germanischer skôp;
norwegische Skalden;
englische
scop, später
gleeman nach dem Instrument und als Teil des
Fahrenden Volkes strolling minstrel, circler, cantabank;
Emile Freymond
Jongleurs und Menestrels.
57 S. Abhandlung behufs Erlangung der venia legendi der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg. Halle a/S. 1883: E. Karras.
Online
mittelalterlich Joculator /
Vagant (dort auch Literatur) / Goliarde
indische
kuśīlavas (traveling bard, dancer, newsmonger 1) ), sūtas (Geschichtenerzähler und Wagenfahrer 2) ), māgadhas (Sänger) und der Mythos der drei
Ribhus
(Sanskrit: ऋभु, ṛbhu);
vedisch k rú (> guru), ein wandernder Lobsänger und singender Priester.
Afrikanische Varombe, etwa in Simbabwe/Mosambik mit dem Lamellophon.
Bengalische Bauls, eine religiöse Gemeinschaft von Wandersängern.
Solche Wanderpoeten brachten `Kunde´ und verbreiteten Nachrichten ähnlich wie Boten oder Herolde, jedoch im Unterschied zu diesen nicht als Gesandte eines Herrn. Die Fähigkeiten, ihre Kenntnisse erfolgreich bewahren und zu verbreiten, machte sie vordergründig zu Rezitatoren, Barden, Dichtern, Troubadoren, Sängern, indem sie Heldenepos, Ruhmeslieder, Hymnen, Lobgesänge schmiedeten, aber auch Spottlieder, Schmähreden und Satiren.
Damit waren sie jedoch sowohl darauf angewiesen, als Gast aufgenommen zu werden als auch auf das Wohlwollen des Publikums: »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing«. Die Suche nach einem Patron als »Sponsor« zieht sich durch die griechischen Erzählungen und spätestens die höfischen Poeten dienten der Propaganda. Das setzt jedoch die Wertschätzung des Wanderpoeten voraus. Als Einzelner ist es einfacher solche Wertschätzung zu erlangen. Die Wünsche des Publikums schnell zu erkennen und entsprechend zu bedienen bedarf der Fähigkeiten eines Schauspielers und Tricksters zum Rollenwechsel. Die Figur des weisen Narren findet sich in vielen Kulturen als Teil der volkstümlichen `oral history´.
Als Erzähler bewahrten sie in ältesten Zeiten vor Einführung der Schrift das kulturelle Gedächtnis der Gemeinschaft, den Kitt gemeinsamer Werte und Vorstellungen. Verknüpft waren diese Glaubenseinstellungen mit Geschichten, in denen `richtiges Handeln´ gemessen wurde an Heroen als Vorbildern und Götter als Richter. Mit dieser Schnittstelle zur Spiritualität wurden die Wanderpoeten auch Teil des »Kultpersonals« (s.u. Bernhard Maier), zu dem auch Opferpriester und Seher(innen) gehörten:
Das
Wissen über die Vergangenheit, über Mythen und Götter, über das Land und die Menschen (
Kosmopoliten) erlaubten tiefere Einsichten, gründlichere Urteile und differenzierte Wertungen, aus denen sich Handlungsempfehlungen ableiten ließen, also Fähigkeiten von `Sehern´ oder `
Seherinnen´ 3).
Der Name des
Keryx - griechische Opferpriester - stammt vom mykenischen
ka-ru-ke `die Stimme erheben, loben, preisen, willkommen heißen´, aber auch `schelten, jammern´ und verbindet sich etymologisch mit dem altirischen
bard und ist bedeutungsgleich mit dem altindischen
jaritár- `Anrufer, Sänger, Preiser´
4). Der Stab des Opferpriesters
Kerykeion kennzeichnet bis heute den Patriarchen von Konstantinopel.
Wanderpoeten brachten also einerseits Altes und Bewährtes, schufen andererseits auch etwas
Neues, dabei nutzt die Sprache
Metaphern mit handwerklich-technischem Bezug: Verse schmieden oder drechseln, Geschichten spinnen, die Rhapsoden `nähten´ ihre Vorträge. Der englische scop und der griechische poiētḗs sind bedeutungsgleich als Former, Gestalter, Erschaffer im ursprünglichen Sinne von
techne.
Priester und Poet brauchen gleichermaßen das Publikum zum Feiern; in den germanischen Erzählungen erfordern heroische Taten immer auch einen ekstatischen Zustand, eine Berauschtheit, also Tanz und Trunkenheit, diesen Zustand bezeichnet protogermanisch
wōþuz `Wut´ > besessen, außer-sich-sein. Die keltischen Seher vātes (< *wātis) sind verwandt mit den lateinischen
vates und wurzeln im protoindogermanischen *(H)ueh₂t-i- `Seher´
5).
Vereinfacht als idealtypische Trinität zeigt sich grob folgende Struktur:
Kultperson | Poet | Opferpriester | Seher/in |
Verfahren | translation | transformation | transfer |
Methode | techne | Ritual | Ekstase |
Wert | Können | Gesetz | Schicksal |
Symbol | Rednerstab | Kerykeion | Zauberstab |
| | | |
keltisch | bard | druidēs | vates |
griechisch | ῥαψῳδός | δρυΐδης | οὐάτεις |
germanisch | Skalden | (Goden) | Völva |
Manche dieser Funktionen finden sich noch heute, etwa bei Straßenmusikern, Alleinunterhaltern, vazierenden Wandergesellen, Drehorgelspielern; in einer armen Gegend wie der Pfalz entstand gar das „Westpfälzer Wandermusikantentum“.
The Street Singer, USA 1912 Stummfilm mit Earle Foxe und Alice Joyce
Street Singer, Indien 1938, Film, Regie: Phani Majumdar
Street Singer, 1862, Gemälde von Édouard Manet