====== Wandern ====== Jeder wandert, jeder weiß es, Doch es hält ihn auf den Straßen Bis ihm durch die Nebelmassen Scheu ein Licht blinkt wie ein leises Hoffen und wie Zielerfassen, Wie ein Ahnen jenes Preises, Der als Schluß des Wanderkreises Rückkunft heißt im Ruhenlassen: Namenloser Gast ist jeder, Bis den Namen er darf schreiben, Nur ein Wort, ein Zug der Feder, Dennoch Zeichen für ein Bleiben, Selbstsichfindend, Ruh im Wandern Bei dem Freund, das Ich im andern. Hermann Broch (1886−1951) Eintrag in ein Gästebuch, 1939 ==== Etymologie ==== `Wandern´ tritt neben die anderen 21 germanischen [[wiki:Fortbewegung#Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen|Nomina der Fortbewegung]] ((''Winfried Breidbach'': //Reise - [[wiki:fahrt|Fahrt]] - Gang. Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen.// Peter Lang 1994 Diss. Köln)) und findet sich vergleichsweise selten im frühen Deutschen, Englischen (aengl. wandrian) und Altfriesischen (wondrian); in den slavischen Sprachen wendrowaz, wandrowasch, wandrati, im Böhmischen Wandrugi, wandrował, wandrowati ((''Václav Jan Rosa'': //Thesaurus linguae Bohemicae//)). Möglicherweise ist es verwandt mit dem Altnordischen //vǫndr// ((vandar, dat. vendi/vǫnd; vendir, acc. vǫndu/vendi)) für ‘Stange, Want, Mast’. //Vǫnd// ist Adjektiv zu //vandr// ‘schwierig’, //vǫndr// bedeutet ‘Zauberstab, Veränderer’. Im Altnordischen wird //vǫnsuðr // mit Wanderer übersetzt, bildlich für `Der Schwingende´ (([[https://skaldic.abdn.ac.uk/m.php?p=wordtextlp&i=308687|Þul Veðra 1 III/1]]; das Wort `Achse´ bedeutet schwingen, daher auch `Achsel´, weil die Arme beim Gehen schwingen)). Dieselbe Vorstellung findet sich auch im Persischen und Arabischen (//mosāfer// مسافر von //Musāfahat// `die Flügel schwingen´) und im gleichnamigen I-Ging-Zeichen [[https://de.wikipedia.org/wiki/I_Ging#/media/Datei:Iching-hexagram-56.svg|I-Ging-Zeichen]] 56: Der Wanderer 旅 lǚ. Ursprünglich bedeutete `wandern´ ganz sachlich `einen geraden Weg zurücklegen´ mit einer Nebenbedeutung von `verändern´ im Sinne von `wandeln´ und `wenden´ als einem endlosen hin und her verbunden durch die Kehre (Umkehr, Rückkehr), vielleicht also an die Erfahrung des Gehens hinter dem Pflug zwischen den //Gewänden// der Ackerfläche sich anlehnend ((Im Hunsrück besteht eine Kehr aus zwei Furchen. Grimm DWB Bd. 11, Sp. 400)) so wie auch die `[[wiki:fahrt|Fahrt´]] an das Gehen in der //Furche// angelehnt ist, jedoch früh übertragen wird auf das [[wiki:unterwegs-sein|Unterwegs-sein]] außerhalb der Gemeinschaft durch die [[wiki:wildnis|Wildnis]]. ==== Bedeutungswandel ==== Das Verdrängen der Wildnis und das Wachsen der Städte mit einer überregionalen Infrastruktur ermöglichte neue Bedeutungsinhalte für `wandern´: * Wandern im Sinne von [[wiki:fussreisen|Fussreisen]] erscheint erst sinnvoll, wenn das Reiten mit dem [[wiki:nutztiere|Pferd]], das Reisen mit der [[wiki:kutschen|Kutsche]] oder mit dem [[wiki:zeitleiste_gelaendewagen|Automobil]] als mögliche Alternative gegenübersteht und das Reisen zu Fuß kultiviert werden kann und verdrängt dann sowohl das verwandte `wandeln´, welches leichter und anmutiger klingt als auch das `wallen´, welches sich als //Waller// `Pilger´ länger behauptet. * Der Wanderzwang der Handwerksgesellen wird in den Zunftstatuten ab dem [[wiki:reisegenerationen#14. Jahrhundert|14. Jahrhundert]] festgeschrieben. * Wandern erscheint im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 15. Jahrhundert|15. Jahrhundert]] als das Zurücklegen einer größeren Strecke durch die Natur. * Wandern im Sinne eines romantischen Durchstreifens der Natur wird so erst etwa seit dem [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 17. Jahrhundert|17. Jahrhundert]] verstanden. * Das Wandern wird durch die spirituelle Ausrichtung zum [[wiki:pilger|Pilgern]], militärisch ab dem 16. Jahrhundert zum [[wiki:marsch|Marsch]] und als tagelanger Sport zum neudeutschen [[wiki:trekking|Trekking]]. * Sportmediziner definieren Wandern über eine Schrittgeschwindigkeit von sechs Kilometern pro Stunde - das dürfte jedoch eher die Ausnahme als die Regel sein und ist mit [[wiki:gepaeck|Gepäck]] untrainiert kaum machbar. * Das Wandern wird als [[wiki:spaziergang|Spaziergang]] sprichwörtlich des [[wiki:musse|Müssiggangs]] Bruder und reduziert den Marsch zum Schlendern in der [[wiki:freizeit|Freizeit]], manchmal erkennbar am [[wiki:picknick|Picknick]]korb. * Das alte Wort //lustwandeln// verwandelt das //Wandern// zum //[[wiki:Bummler|Bummeln]]// und //[[wiki:flaneur|Flanieren]]//. Beide betonen das sich-verlieren ohne auf die [[wiki:zeit_musse|Zeit]] zu achten, doch unterscheiden sie sich durch Stil und Haltung. Allerdings ist es kaum vorstellbar, in der [[wiki:waldeinsamkeit|Einsamkeit]] zu bummeln und zu flanieren. Beide benötigen das //sehen-und-gesehen-werden// als Teil einer Menge, von der sie sich absetzen können, teils durch Lässigkeit oder Überheblichkeit oder Nachdenklichkeit, teils durch offensichtliche Expressivität, erkennbar etwa an Einkaufstasche, Sonnenschirm, Spazierstock, Strohhut oder Pfeife. * Gepäckformen wie [[wiki:felleisen|Felleisen]], [[wiki:berliner|Berliner]], [[wiki:tornister|Tornister]], [[wiki:ranzen|Ranzen]], [[wiki:mantelsack|Mantelsack]] oder [[wiki:rucksack|Rucksack]] wurden zeittypisch über ihre Notwendigkeit hinaus zum kennzeichnenden Merkmal von [[wiki:stereotyp|Stereotypen]] und Gruppen; dabei wandelte sich beispielsweise der Rucksack vom Attribut des Wanderers in den letzten Dekaden zum modischen Accessoire und auch der Bergschuh ist kein Alleinstellungsmerkmal mehr. * [[wiki:stab|Stockformen]] sind bis heute kennzeichnend, etwa als [[wiki:pilgerstab|Pilgerstab]], als Knotenstock (Stenz) für [[wiki:wanderbursche|Wanderburschen]]/[[wiki:gesellenwanderung|Gesellenwanderung]], als Ziegenhainer für Studenten, als Spazierstock, als Teleskopstock, als [[wiki:wanderstock|Wanderstock]] mit [[wiki:stocknagel|Stocknägeln]] als [[wiki:souvenir|Souvenir]]. * Bemerkenswert ist, dass das Wandern zur //Wanderschaft// werden kann, also zur Bestimmung, zur Lebensphase, zur Haupttätigkeit, weil analoge Bildungen wie Reiseschaft, Fahrschaft nicht existieren. Derart betont erscheinen auch: Wanderjahre, [[wiki:wandermoench|Wandermönch]], Wanderprediger, Wander[[wiki:weg|weg]]/-pfad. * Bemerkenswert ist auch, dass es in der Literatur anscheinend nur einen Wanderer gibt, der ankommt, nämlich den »Kömmling« im zweiten Teil und fünften Akt des //Faust// von ''Goethe''. Entdeckt hat das ''Peter Härtling'' ((''Härtling, Peter'': //Der Wanderer.// München 2002: dtv, S.75. - Hier zitiert nach ''Allessandra Riva'': //Die Figur des Wanderers bei Peter Härtling//, Universität Gießen 2004. [[http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2005/2564/pdf/RivaAlessandra-2005-12-14.pdf|pdf online]] )). ==== Der Wanderer in der Kunst ==== * **1492–1497** ''Dürer, Albrecht'': //[[http://www.zeno.org/nid/20003996417|Felsenstudie mit Wanderer]]//\\ 22,5×31,6 cm, Feder auf Papier, Wien: Grafische Sammlung Albertina * **um 1500** ''Hieronymus Bosch'': [[https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Hausierer#/media/Datei:Jheronimus_Bosch_-_The_Pedlar_-_Google_Art_Project.jpg|Der Wanderer]] (= Der Hausierer) * **1700-1750** ''Guercino, Giovanni Francesco'': //[[http://www.zeno.org/nid/20004065441|Landschaft mit Wanderer]]//\\ 29,2×44,5 cm, Feder, Paris: Musée du Louvre, Cabinet dessins * **18. Jh.** ''Wolf, Caspar'': //[[http://www.zeno.org/nid/20004368819|Felslandschaft, im Vordergrund zwei Wanderer]]//\\ 17,5×17,5 cm, Öl auf Karton, Basel * **um 1818** ''Friedrich, Caspar David'': //[[http://www.zeno.org/nid/20004018915|Der Wanderer über dem Nebelmeer]]//\\ 74,8×94,8 cm, Öl auf Leinwand, Hamburg: Kunsthalle * **1858-1859** ''Rejlander, Oskar Gustav'': //[[http://www.zeno.org/nid/20001891626|Der Wanderer]]//\\ England * **um 1870** ''Russischer Photograph'' * [[http://www.zeno.org/nid/20001897896|Wanderer]] * [[http://www.zeno.org/nid/20001896881|Pilger und Wanderer]] [1] Paris: Bibliothèque Nationale * [[http://www.zeno.org/nid/2000189689X|Pilger und Wanderer]] [2] Berlin: Ullstein Bilderdienst * **1879** ''Klinger, Max'': //[[http://www.zeno.org/nid/20004111141|Sterbender Wanderer]]// Opus I, »Radierte Skizzen«\\ 41,4×29,7 cm, Radierung und Aquatinta * **um 1915** ''Moser, Koloman'': //[[http://www.zeno.org/nid/20004199758|Der Wanderer]]//\\ 75,5×62,5 cm, Öl auf Leinwand, Wien: Sammlung Leopold * **1910** ''Ernst Barlach'' //Ruhender Wanderer//\\ Gips, getönt, 18×50× 15 cm Berlin, Nationalgalerie * **1927** ''Ernst Barlach'' //Wanderer im Wind// \\ Kohle auf Papier, 63,8×48 cm ^ Quelle ^ Zeit ^ Titel ^ Kategorie ^ | Überlieferung | vor 1070 | The Wanderer | altengl. Gedicht| | ''Richard Savage'' | 1726 | The Wanderer | Lyrik | | ''J. W. von Goethe'' | 1772 | Wandrers Sturmlied| Lyrik | | ''J. W. von Goethe'' | 1774 | Der Wanderer | Lyrik | | ''Friedrich Hölderlin'' | 1797 | Der Wanderer | Lyrik | | ''Gebrüder Grimm'' | vor 1834 | Die beiden Wanderer | Märchen | | ''F. Nietzsche'' | 1876 | Der Wanderer| Lyrik | | ''F. Nietzsche'' | 1884 | Der Wanderer| Lyrik | | ''Knut Hamsun'' | ab 1906 | Wanderer-Trilogie | Prosa | ==== Literatur ==== siehe auch [[wiki:literaturliste_fussreisen|Literaturliste zum Fußreisen]] * ''Albrecht, Wolfgang, Kertscher, Hans-Joachim'' (Hrsg.)\\ //Wanderzwang – Wanderlust//.\\ Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung\\ Tübingen 1999. * ''Dieter Arendt''\\ //Der Mensch unterwegs//\\ in: Zeitwende 38 (1967) 688 - 698 * ''Baensch, Thorsten'', ''Norbert Schöbel''\\ //Von Ort zu Ort 12 Jahre zu Fuss:\\ Bruxelles, Baden-Baden, München, Hamburg, Berlin, Praha 2004-2017.//\\ 768 S. Breda The Eriskay Connection 2021.\\ 3138,5 km in 155 Tagen zwischen 2004 und 2017, »in Erinnerung an unsere wandernden Vorgänger und gewidmet allen, die zu Fuss reisen«. * ''Büscher, Wolfgang''\\ //Deutschland, eine Reise.//\\ 249 S. Hamburg 2007: Rowohlt * ''Büscher, Wolfgang''\\ //Berlin - Moskau eine Reise zu Fuß//.\\ Hamburg 2003: Rowohlt.\\ Drei Monate zu Fuß durch Polen, Weissrussland und Russland. * ''Cusack, Andrew''\\ //The wanderer in nineteeth-century [sic] German literature : intellectual history and cultural criticism//.\\ X, 257 S. New York 2008. * ''Delius, Friedrich Christian''\\ //Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus.//\\ 154 S. Hamburg 1995: Rowohlt. * ''Esser, Hartmut''\\ //Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse.//\\ Habil. (=Soziologische Texte, 119) 294 S. Bibliogr. S. 267−288 Darmstadt 1980: Luchterhand. [[https://d-nb.info/801088836/04|Inhalt]] * ''Härtling, Peter''\\ //Der Wanderer.//\\ 157 S., Darmstadt 1988: Luchterhand\\ Der Autor erzählt von seinen Fussmärschen 1945 durch ein Europa, das in Schutt und Asche lag, von seiner Zeit des Umhergetriebenseins und der Fremdheit. »Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh ich wieder aus« - so beginnt die Winterreise von ''Wilhelm Müller'' und wird zum Motto von Härtlings //Wanderer//. * ''Alessandra Riva''\\ //Die Figur des Wanderers bei Peter Härtling.//\\ Justus-Liebig-Universität Gießen 2005 [[http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2005/2564/|Online]]\\ Die Natur, die Jahreszeiten und der zyklische Ablauf in der Bewegung des Wanderers mit Bezügen zu Goethe, Müller (Winterreise-Zyklus) und Nietzsche. * ''Heberle, Rudolf''\\ //Theorie der Wanderungen.//\\ Schmollers Jahrbuch 75.1 (1955) 1−23. [[https://doi.org/10.3790/schm.75.1.1%0A|DOI]] * ''Kieling, Andreas''\\ //Ein deutscher Wandersommer. 1400 Kilometer durch unsere wilde Heimat.//\\ 301, [32] S. Ill., Kt. München 2011: Malik. [[https://d-nb.info/1008937517/04|Inhalt]]\\ Mit seiner Hündin Cleo wanderte Kieling entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze vom Dreiländereck bis an die Ostsee, 1400 Kilometer durch acht Bundesländer in sieben Wochen. * ''Stefan Schaffner''\\ //Mittelirisch fethid ’geht, macht seinen Weg’, althochdeutsch wadalōn, wallōn ’umhergehen, wandern; umherwogen’, altenglisch waðuma ’Woge, Welle’, waðol ’Vollmond’, und Verwandtes.//\\ in: 277-314 Die Indogermanistik und ihre Anrainer. Dritte Tagung der Vergleichenden Sprachwissenschaftler der Neuen Länder. Stattgehabt an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität zu Greifswald in Pommern am 19. und 20. Mai 2000, hrsg. von Thorwald Poschenrieder (= IBS Bd. 114), Innsbruck 2004, 277-314 * ''Schmauks, Dagmar''\\ //Wandern als komplexe ressourcenbeschränkte Tätigkeit//.\\ (=Universität des Saarlandes, 1) Saarbrücken 1996 14 S. * ''Solnit, Rebecca''\\ //Wanderlust: A History of Walking.//\\ New York: Viking, 2000; X, 326 S., London 2014: Granta Books. ---- engl. hiking\\ siehe *[[wiki:fussreisen#Wandern - Die kultivierte Fußreise|Fußreisen]]