Täuschung

Im griechischen Mythos erhielt Kassandra von Apoll die Gabe der Weissagung. Dieses Geschenk war jedoch vergiftet, denn Apoll erwartete dafür die Hingabe der schönen Frau. Sie weigerte sich jedoch und bezahlte mit Apolls Fluch, dass ihr nie jemand glauben solle.

Apoll hat also versucht Kassandra zu täuschen; der wurde enttäuscht und rächte sich. Die Geschichte verpackt die Ambivalenz von Wahrheit und Täuschung, von Schein, Schönheit und Begierde. Wer da nicht mitspielt, riskiert sein Leben. Kassandra wurde erdolcht, obwohl sie dies voraussah.

Täuschung kommt in vielen Gewändern daher, nur nicht als Lüge:

Als Archetypus des Täuschers gilt der Trickster; im Alltag sind es die Spielformen des Scharlatans - beide vernebeln die Wahrheit, relativieren das Wissen und höhlen die echten Worte aus; beide suchen die Leichtgläubigen, so wie es Goethe im Faust den Mephistopheles sagen lässt:

Mephistopheles:
Ich wünschte nicht, Euch irre zu führen.
Was diese Wissenschaft betrifft,
Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden,
Es liegt in ihr so viel verborgnes Gift,
Und von der Arzenei ist's kaum zu unterscheiden.
Am besten ist's auch hier, wenn Ihr nur einen hört,
Und auf des Meisters Worte schwört.
Im ganzen – haltet Euch an Worte!
Dann geht Ihr durch die sichre Pforte
Zum Tempel der Gewißheit ein.

Schüler:
Doch ein Begriff muß bei dem Worte sein.

Mephistopheles:
Schon gut! Nur muß man sich nicht allzu ängstlich quälen
Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,
Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

Das Thema ist jedoch auch Reisenden vertraut. Zum einen fährt gut, wer sich in der Fremde als Trickster behaupten kann; zum anderen verträgt sich die Wahrnehmung der Welt nach der Heimkehr nicht mit der Weltanschauung der Zurückgebliebenen, wie schon das Sprichwort weiß: »Das ist nicht wahr, sagte der Krebs, als die Schwalbe von ihrer Reise erzählte.« 1) Unter Ethnologen ist der »writing-culture« Effekt bekannt: Es ist unmöglich, die bei der »teilnehmenden Beobachtung« erlebte Wahrheit schriftstellerisch unverändert wiederzugeben; Fremdes wird konstruiert, denn Texte sind immer auch fiktiv.


1)
Karl Friedrich Wilhelm Wander
Deutsches Sprichwörterlexikon
Brockhaus, Leipzig 1867–1880
IV S. 1744