Stendhal
Mémoires d'un touriste. 2 Bde. 797 S., 1 Karte. Paris: A. Dupont, 1838Wie wenigen Menschen ist das Talent verliehen, Reisende zu seyn! Sie verlassen niemals ihre Heimath, sie werden von allem Fremdartigen gedrückt ... Ludwig Tieck 1773 - 1853
Norbert Lüdtke
, zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift DER TROTTER Ausgabe 123 (2007) als Teil 2 der Artikelreihe Wir Globetrotter
»You are fascist or communist?«, fragte der Soldat im türkisch-iranischen Grenzgebiet, während der Wagen durchsucht wurde. Und ließ uns ohne weiteres ziehen, als ich antwortete: »No, we are tourists«. Ich bekenne gelogen zu haben, doch »we are globetrotters« dürfte kaum so erfolgreich gewesen sein. Und wie hätte er das eine vom anderen unterscheiden sollen?
Eigentlich ganz einfach: Der Globetrotter treibt sich dort herum, wo er nicht hingehört, in besagtem Grenzgebiet etwa. Der Tourist dagegen ist Teil eines gelenkten »Touristenstroms« und, falls er einzeln auftreten sollte, bereits kein Tourist mehr, weil er sich entschieden hat, sich selbst irgendwohin zu lenken. Das war nicht immer so.
Der »Tourist« ist im Englischen 1800 erstmals belegt, im Französischen 1816; ins Deutsche um 1830 übernommen worden, erreicht 1838 die gehobene Literatur 1) und 1847 die Satire 2). Er bezeichnete zuerst einen »Reisenden, der zu seinem Vergnügen, ohne festes Ziel, zu längerem Aufenthalt sich in fremde Länder begibt« (Grimms Wörterbuch, daraus auch die weiteren Zitate), also auf Tour ist. So definiert zu werden dürfte einen heutigen Globetrotter kaum stören. Also fielen um 1800 manche Reisende individuell besonders auf, sonst wäre ihnen das damals noch ungewöhnliche Prädikat »der Tourist« nicht zuteil geworden. 1886 ist mit dem »Touristenverein« zum einen bereits eine gewisse Verbreitung zu erkennen – denn wer sonst hätte sich sonst vereinen sollen – und zum anderen zeigt dies ein abgrenzendes Selbstbewußtsein: »Wir Touristen«. Etwa ab 1900 zeigen immer mehr zusammengesetzte Begriffe an, daß »der Tourist« zum abstrakten Phänomen wird: Touristenland, Touristenschiff, Touristenkleidung … 1906 deutet »Touristenvolk« ein massenhaftes Auftreten des Phänomens an, mit abschätzigem Ton. Gedämpft von zwei Weltkriegen und einer Weltwirtschaftskrise wächst »der Tourismus« bis heute ungebrochen.
»Der Tourismus« ist nicht einfach wahrzunehmen, obwohl er die Welt mit einem dichten Geflecht überzogen hat, das es jedermann ermöglicht von jedem Punkt A nach jedem Punkt B zu gelangen: billig, schnell, komfortabel. An Punkt A steigt ein, wer Geld hat und an Punkt B steigt aus, wer seine Wunschträume dort zu finden glaubt. Der Tourismus organisiert heute weltweit die Mobilität, mit der massenhaft vorhandene Lüste, Wünsche, Bedürfnisse befriedigt werden können. Tourist ist, wer dieses System mit seinen technischen Mittel und wirtschaftlichen Einrichtungen benutzt: ein Reisebüro, eine Ferienanlage, eine Tourengruppe, … Tourist kann ich am Wochenende sein oder in den Ferien, wie ich eben auch Fahrrad- oder Autofahrer, Bahnnutzer oder Fluggast … sein kann, erkennbar an dem, was ich tue. Als Gegenentwurf zum Tourismus erscheint das Balconing ohne Fortbewegung, während das weekendismo zwar tourismusähnliche Auswirkungen zeigt, jedoch aus gewohnten Routinen im bekannten Raum entsteht.
Dann ist aber auch, wer sich und seine Reise von einem gedruckten Reiseführer leiten läßt, ein Tourist. Heutige Reiseführer steuern Massen von Reisenden (siehe Trotter 119: On the beaten track?), die sich dann alle an denselben Orten wiederfinden: »Touristen, die mit Baedeker oder Murray unterm Arm Sehenswürdigkeit für Sehenswürdigkeit gewissenhaft abtrabten« (1883). Wie müßte eigentlich ein Reiseführer geschrieben sein, der zwar hilft, sich zurechtzufinden, doch die endgültige Wahl den Reisenden überläßt, der ein »entdeckendes Reisen« fördert und nicht führt, sondern anregt und anstößt?
Für ziemlich sicher halte ich, daß sich der Tourist von 1807 mit dem Globetrotter von 2007 prächtig verstanden hätte: »in sehr jungen Jahren eine Waise, benutzt er seine Unabhängigkeit nur dazu, sich … jener unersättlichen Reiselust hinzugeben, die ihm bald den Namen des 'ewigen Touristen' verschaffte« (1863). Es gibt eine bestimmte Einstellung zum Reisen, zu der sich 1807 ebenso wie 2007 nur eine Minderheit bekennt. Man erkennt sich, man fühlt sich verbunden, man schätzt ähnliche Werte, man wird als Minderheit wahrgenommen und erhält ein Etikett: Vor 200 Jahren eignete sich der Begriff Tourist als Etikett, er kennzeichnete zunächst eine bestimmte Form der Lebensgestaltung. Als Titel adelte er Einzelne, dann wurde er zur Marke einer wachsenden Minderheit, schließlich wurde zum Gattungsbegriff einer Strömung. Je breiter der Begriff wurde, desto weniger tief reichte er und wurde entwertet. Niemand käme auf die Idee, unter »Tourist« einen Lebensreisestil zu verstehen - im Unterschied zum Globetrotter.
Die Minderheit – Reisende aus Leidenschaft – hatte ihren Begriff verloren und suchte nach einem neuen Begriff. Besonders »der Globetrotter« wird gern benutzt, andere ziehen den Weltenbummler vor. Der »Fernreisende« war um 1970 außergewöhnlich, doch heute wird verramscht, was damals exklusiv war. Der »Rucksackreisende« reduziert den Reisestil auf ein sichtbares Symbol und greift zu kurz. Denn einen Rucksack hat fast jeder, teure Rucksäcke eignen sich auch für den Besuch der Oper. Der englische Begriff »Backpacker« dient der Tourismuskritik als Typus für ein schmarotzendes Reiseverhalten. Der »Tramper« ist eine museale Erscheinung und erscheint – älter geworden – heute als »Wohnmobilist«. Wir meinen ja eigentlich ein individuell gestaltetes Reisen, doch fehlt dem »individuell Reisenden« die Leidenschaft, zumal die Tourismusindustrie als »Individualreisende« jene Kunden bezeichnet, die Pauschalangebote aus dem Katalog individuell variieren und vielleicht einen Leihwagen hinzubuchen.
Die Übergänge verschwimmen, wenn man zu genau hinschaut. Und wer war noch nie Tourist? Klar, nur weil die Zeit knapp war. Und doch war es bequem und man konnte sich so richtig schön fallen lassen, in einer Gruppe untertauchen, den Service einer touristischen Unterkunft genießen, den tour operator organisieren lassen … Dennoch haben Globetrotter das Gefühl, anders zu sein. Wir brauchen touristische System nicht, wir können auch »selbst reisen«. Es gibt ihn also, den kleinen Unterschied.
Ziemlich erfolglos suchen Tourismusforscher seit Jahrzehnten nach einer Gemeinsamkeit der individuell »anders« Reisenden. Auffällig ist jedoch, daß diese bunte, inhomogene Gruppe immer als Gegensatz zum (Massen-, Pauschal-)Tourismus betrachtet wird. Vor langer Zeit wurde dieser Gegenentwurf von außen als »Alternativtourist« bezeichnet. Das ist etwa so, als würde ein Vegetarier als Nicht-Fleischesser definiert. Gäbe es kein Fleisch – was machte dann den Vegetarier aus? Gäbe es keinen Tourismus …? Andererseits kommt »der Globetrotter« in der Tourismus-Werbung gut an, ziert Busse, Jacken, Kataloge und der Discounter Rewe verkaufte Globetrotter-Reisen.
Innerhalb der Globetrotterszene finden sich über Jahrzehnte hinweg viele Versuche, sich vom »Tourist« abzugrenzen. Wer individuell reist, mag sich nicht als Tourist bezeichnen lassen. Globetrotter spüren aus ihrer Reiseerfahrung heraus, daß sie grundsätzlich etwas vom Touristen unterscheidet. Aber worin besteht dieser grundlegende Unterschied? Jeder Reisende hat sich bereits früh entschieden, ob er auf die eine oder andere Art reisen will, lange bevor die Reise beginnt.
Im Katalog werden Leistungen definiert und zugesichert. Der Tourist sucht sich das Reiseangebot, das seinen Bedürfnissen möglichst nahe kommt und zahlt dafür. Die Reise als touristisches Produkt garantiert Anfang und Ende, Erlebnisse und Nicht-Erlebnisse in festgelegter Qualität. Die Garantie gilt nicht nur einmal, sondern zuverlässig für jeden der bucht, immer wieder, während der gesamten Saison, so lange der Katalog gilt. Also muß der Anbieter zuverlässige Routinen entwickeln. Unsichere Leistungen mindern den Preis (»Roulette«). Werden zugesicherte Leistungen nicht geliefert, greift das Reiserecht. Das gilt selbst für vermeintliche Abenteuerreisen, wie etwa die Besteigung des Mount Everest für knappe 100.000 US$ mit exakter Zeitplanung, Ausrüstung, Essensangebot, Aufstiegschancen …
Das Bedürfnis von Touristen nach absolut sicheren Leistungen im Einzelnen (naher Strand, ruhige Nacht, all inclusive …) führt dazu, daß ihm nur begrenzte Wahlmöglichkeiten zugestanden werden (5 Minuten Pinkelpause). Jede Abweichung von der Routine erhöht das Risiko unerwarteter und unerwünschter Ereignisse, etwa daß man zu spät zum abendlichen Buffet kommt. Routine und Erlebnisgarantie bedingen daher unvermeidlich den Verlust von Freiheit.
Der Tourist verlangt viel und erwartet ein Zuviel, denn der Überfluss und das Überflüssige kennzeichnen den Luxus. Der Globetrotter dagegen ist fokussiert auf das Besondere und bereit zum Verzicht, er ist fähig zum Frugalismus.
Begrenzte Wahlmöglichkeiten werden schmerzlich als Verlust von Freiheiten empfunden. Er will möglichst immer die Wahl haben, braucht die Freiheit selbst zu entscheiden. Das Reisen von Globetrottern ist daher nur begrenzt planbar. Wahrscheinlich wird seine Reise in einer bestimmten Art und Weise ablaufen, aber nicht sicher. Alternativen müssen bedacht werden, immer wieder sind Entscheidungen zu treffen. Das Risiko, daß etwas nicht so sein wird, wie erwartet, ist sehr hoch. Globetrotter akzeptieren dieses Risiko und damit die erlebnisoffene Reise. Wir erstreben die »Die Freiheit aufzubrechen, wohin ich will«, um es mit Reinhold Messner
zu sagen.
Sich selbstbestimmt entscheiden zu können: darin liegt die Freiheit der Globetrotter. Der Preis dafür liegt im Risiko enttäuschter Erwartungen. Sich nicht selbstbestimmt entscheiden zu müssen, darin liegt die Freiheit der Touristen.
Freiheit, Sicherheit, Gesundheit … was gut klingt, ist oft hohl; die Tricolore der Touristen besteht aus »Leerbegriffen« (Luhmann
) und jeder füllt sie nach eigenem Gusto. Aber »Sicherheit« ist wie »Gesundheit« die Vision eines Zustandes, den man zwar anstreben, doch nie garantieren kann. Sich gesund zu ernähren garantiert keine Gesundheit. Risiken zu scheuen garantiert keine Sicherheit. Die Fülle zugesicherter Leistungen und Erlebnisse des Tourismus führt eben nicht dazu, daß der Tourist in Sicherheit ist. Der Tourismus verkauft jedoch künstliche Paradiese, dort erwartete niemand ein Risiko. Katastrophen oder Terrorakte bedeuten für Touristen die Verstoßung aus dem Paradies. Nach dem Tsunami in Südostasien waren Einheimische betroffen und Ausländer. Die Medien transportierten in erster Linie das Bild vom hilflosen Touristen, der – völlig abgeschnitten von der touristischen Versorgung – mehr als die Einheimischen Grund zu klagen hatte: »Niemand hilft mir!« (siehe auch Trotter 114). Globetrotter dagegen teilen die Grunderfahrung: »Wenn ich meine Probleme nicht löse, löst sie auch kein anderer.«
Der Globetrotter ist im Moment des Aufbruchs auf sich gestellt. Von nun an trifft er mehr Entscheidungen als in seinem Alltag. Alles, was ihm widerfährt, deutet er als »Folgen der eigenen Handlungen und Entscheidungen«, schließlich hat er sich selbstbestimmt und eigenverantwortlich für seine Reiseform entschieden. Seine Planung muß das Unerwartete berücksichtigen, Alternativen bedenken, das »sowohl als auch« einplanen. Wer unter solchen Voraussetzungen Lust am Reisen empfindet, bedarf ganz besonderer Einstellungen und Fähigkeiten. »Die endlose Fülle der Möglichkeiten steht ihm offen, wenn er für die Freiheit optiert. Und er kann sicher sein, daß dann nichts mehr voraussagbar sein wird: Er kann gewinnen oder verlieren, genießen oder leiden, schlemmen oder hungern, selig werden oder verzweifeln, der großen Liebe oder der großen Angst begegnen, in den Himmel oder die Hölle geraten. Er kann leben und erleben.« 3)
Der Tourist begibt sich in einen geschützten Raum. Er kann sich fallen lassen, denn alles, was bis zu seiner Rückkehr geschehen wird, ist erwartet, geplant, gesichert, bezahlt. Unerwartetes ist nicht vorgesehen, der Tourist glaubt an seine Unverletzlichkeit und Sicherheit. Unter diesen Bedingungen kann und will er weniger entscheiden müssen als im gewohnten Alltag; verringerte Wahlmöglichkeiten werden als Entlastung empfunden, er muß sich um nichts kümmern, trägt keine Verantwortung. Alles, was diesen idyllischen Zustand stören kann, sind zwangsläufig »Folgen fremder Entscheidungen« (Jokisch
). Demzufolge wird das Ende der Reise, die Rückkehr in den Alltag, als Belastung empfunden, es gilt wieder sich zu verantworten, zu entscheiden, zu handeln. »Indem er auf die Rückfahrkarte in seiner Tasche pocht, gesteht er ein, daß die Freiheit nicht sein Ziel ist« (Enzensberger
).
Dieter Schlesak
Cohen, E.
McCannell, Dean
Christian Adler
Reinhold Messner
Greenblatt, S.
Lutz Krusche
Paolo Bianchi
(Hg.): Ankommen - Hiersein - Weggehen.Rodrigo Jokisch
Christoph Ransmayr
McCabe, S.
Löfgren, O.
Quinteiro, Silva
, Rita Baleiro
Knebel, H.-J.
Nettekoven, L.
Scheuch, E. K.
Urry, J.
Bausinger, H.
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Spode, H.
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Spode, H.
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Urry, J.
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(Hrsg.)Spode, H.
Urry, J.
Urry, J.
C. M. Kopper
Spode, H.
Spode, H.
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Stendhal
Mémoires d'un touriste. 2 Bde. 797 S., 1 Karte. Paris: A. Dupont, 1838Mountjoy, Guido
Horst Martin Müllenmeister
: Lust auf Reisen. Anmerkungen zu Theorien des Tourismus. In: Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Ertzdorff, Xenja von; Neukirch, Dieter; Schulz, Rudolf [Hrsg.]. Amsterdam 1992, S. 5-28