Abfahren: Zeit fürs Reisen
Norbert Lüdtke
, zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift DER TROTTER Ausgabe 125 (2007) als Teil 4 der Artikelreihe Wir Globetrotter
»Verliere nicht Deine Zeit damit, dein Leben zu verdienen.
Verdiene deine Zeit, rette dein Leben.«
Lanza del Vasto, Weisheit der Landstraße
Aus Eiern und Milch, Zucker und Aromen kann ein Pfannkuchen entstehen – oder ein Schlamassel. Mit etwas Gefühl und Erfahrung entsteht daraus ein Soufflé, dem Künstler gelingt gar eine einzigartige Delikatesse. Ähnlich geht es dem Reisen mit den notwendigen Zutaten Zeit & Geld, Ausrüstung & Know-How. Jeder kann etwas daraus machen. Doch in der Art und Weise, wie Globetrotter sie arrangieren und komponieren, entsteht daraus etwas Besonderes oder gar Einzigartiges. Daran läßt sich insbesondere erkennen, wie Reisende mit der wichtigsten Zutat umgehen, der Zeit. Die Qualität einer Reise läßt sich an der Dauer festmachen (Teil A). Doch Reisen, rise-on, sich erheben, setzt vorangegangenes Niederlassen voraus, also wird es bestimmt vom Verhältnis zu Arbeit und Konsum (Teil B). Schwieriger zu erkennen ist der Grad der Selbstbestimmung (Teil C) oder gar das Bewußtsein für diese Zeit des Reisens (Teil D).
A. Langzeitreisen
Langzeitreisen haben die Eigenart, daß man während eines großen Teils der Reise nicht aufs Ende zu schauen braucht. Diese »abundance of time« ermöglicht es, einen besonderen Reisestil zu pflegen. Jeder Globetrotter hat Langzeitreisen hinter sich – oder noch vor sich. Doch ist, wer lange Zeit gereist ist, immer auch ein Globetrotter? Vermutlich nicht, denn manch einer hakt eine Langzeitreise, etwa nach dem Studium, lediglich als einmalige Erfahrung ab, als ein »Must« – erledigt, vorbei. Für die Tourismusindustrie wiederum sind Langzeitreisende solche, die länger als drei Monate buchen, also etwa Überwinterungstouristen in Tunesien.
Der englische Begriff, long-term travelling, nähert sich unserem besonderen Verständnis der Langzeitreise weiter an. Er umfaßt eine langfristige Orientierung des Globetrotters und betont das Dauerhafte. Damit eignet er sich eher zum Beschreiben einer Einstellung, einer Mentalität. Eine solche Langzeitreise ist die Nagelprobe eines Globetrotters. Man ist Globetrotter, wenn die Langzeitreise mehr ist als eine gute Erfahrung, wenn sie nämlich den Funken einer Leidenschaft entfacht, die anhaltend glüht, zeitweise nur glimmt, dann aber wieder hell lodert.
Erfahrungen und Erlebnisse zeugen von jener Leidenschaft und in der persönlichen Begegnung, etwa bei Globetrottertreffen, entsteht eine Gewißheit auf Seinesgleichen zu treffen. Man hört und versteht, doch wichtiger ist es zu fühlen, daß bei Anderen ähnliche Einstellungen den Motor des Reisens auf Touren bringen – trotz aller individuell überbetonten Verschiedenheit.
Die Langzeitreise ist dem Globetrotter eine Idealform, ohne daß dies andere Reiseformen ausschließen würde. Sie ist ein Königsweg, auch wenn andere Wege manchmal wichtiger sind.
Keine Zeit
Du kommst von einer langen Reise zurück in heimatliche Gefilde. Die erste Frage der zurückgebliebenen Anderen: »Wie war’s?« — Was erwarten die? Ein halbes Jahr in einem Satz? Vermutlich ja. Etwas später, seufzend: »Ach ja, das würde ich auch gerne machen, ABER: ich habe nicht so viel Zeit (wie Du).« Der Gründer des Sierra Club, John Muir 1), beschrieb solche Leute als »the ‘time-poor’ – people who were so obsessed with tending their material wealth and social standing that they couldn’t spare the time to truly experience …«
2)
Wer sonst soll ihre Zeit haben? Und warum haben die einen mehr und die anderen weniger? Wir können Geld, Materie, Energie anhäufen, sparen und gezielt einsetzen. Allein die Zeit entzieht sich und geht dahin. Sie ist eine Ressource, die durch nichts ersetzt werden kann. Lebenszeit gibt es nur einmal. Zeitverschwendung sei die einzige Todsünde, soll Goethe gesagt haben. Daran, wie Lebenszeit für etwas eingesetzt wird, zeigen sich Wertvorstellungen eindeutig.
Auf der Höhe unserer Zeit?
In den Modern Times von 1936 gerät der Tramp Charlie Chaplin
zwischen Zahnräder, heute kochen wir unser Hirn mit Mikrowellen. Wer kein Handy benutzt, erntet Vorwürfe. E-Mail macht Denkpausen entschuldbar, vorbei die Zeit der »Schneckenpost«. Es ist kaum entschuldbar, nicht erreichbar zu sein. »Transhumane Geschwindigkeiten« 3) führen zur »tachogenen Weltfremdheit« 4). Einerseits versuchen wir unseren Pflichten optimal nachzukommen, Bedürfnisse und Interessen zu befriedigen. Andererseits erfordert eine sich schnell verändernde Welt ständiges Lernen. Was gestern noch richtig war, könnte heute falsch sein. Sobald unsere Aufmerksamkeit nachläßt, veraltet unser Wissen, verlieren wir die Übersicht – die Welt wird uns fremd. Es wird immer aufwendiger, »auf der Höhe der Zeit« zu sein, oft hinken wir hinterher. Es scheint allerdings eine alte Erfahrung zu sein, daß letztlich der gewinnt, der das Spiel nach anderen, eigenen Regeln spielt, wie der Igel im Märchen Der Igel und der Hase – vorausgesetzt, er nimmt sich Zeit und kennt seine Stärken.
So mißtrauen wir letztlich unseren Erfahrungen, sie könnten ja veraltet sein und benutzen Ratgeber-Literatur. Erfahrungen selbst zu machen wird weniger alltäglich, stattdessen wird »gegoogelt«. Wir glauben an die Realität dessen, was wir auf dem Bildschirm sehen. »Die jeweils große Mehrheit … ist nicht mehr in der Lage, den Realitätsgehalt der Orientierungsdaten wirklich zu beurteilen: synchron zur zunehmenden Legierung von Realität und Fiktion verwischt sich auch der Unterschied von Realitätswahrnehmung und Fiktionsbewußtsein … Die moderne Wirklichkeit erhält in wachsendem Maße jene Färbung von Halbwirklichkeit, in der Fiktion und Realität ununterscheidbar werden.« 5) Trotzdem ist die Bereitschaft verbreitet, sich den Illusionen der Medien hinzugeben, sie sind ja so internett. Ob unser Weltbild eher aus eigener, sinnlicher Wahrnehmung oder mehr aus konsumierter Fiktion erwächst, ist oft nicht mehr zu unterscheiden.
Gleichwohl erkennen gerade wir Globetrotter eher den Widerspruch zwischen medialer Wirklichkeit und eigener Erfahrung, schließlich sind wir Experten authentischer Erfahrungen. Wer je im Iran war oder durch Afrika fuhr, dem erscheint das öffentlich transportierte Bild als Zerrbild. Die Erfahrung langer Reisen macht Globetrotter weniger anfällig für Illusionen und Schwarz-Weiß-Malerei.
B. Arbeitszeit und Freizeit
Erlaubte freie Zeit
Globetrotter sind etwas Besonderes. Jeder Mensch ist etwas Besonderes. Und die meisten wollen das auch zeigen: Mein Haus, Mein Auto, Mein Boot, Mein Urlaub. Urlaub gilt als »schönste Zeit des Jahres«. Wenn Urlaubszeit so schön ist, weshalb übernehmen wir diese Erfahrungen dann nicht für den Rest des Jahres? Weil, erstens, Urlaub dem Wortsinne nach nichts anderes ist als die Erlaubnis (!), sich vorübergehend (!) aus einem Abhängigkeits(!)verhältnis zu entfernen. Urlaub ist erlaubte freie Zeit, die Rückkehr Pflicht. Das Bedauern über die Rückkehr ist wohl geheuchelt, denn die gesicherten und geordneten Verhältnisse bieten viele Vorteile. Nur wer weiß, daß er auf gesicherte Verhältnisse zurückschauen kann, fährt in Urlaub.
»Gestattet ist einzig das Verweilen an Orten, wo man Produkte und Dienstleistungen konsumieren muß.« 6) Bekanntlich erreicht nur ein äußerst kleiner Teil der touristischen Ausgaben das Urlaubsland. Und so bleibt der Konsument auch im Urlaub Teil des heimatlichen Wirtschaftssystems. 90% des Jahres werden also Verhältnisse akzeptiert, von denen man sich allein im Urlaub befreit fühlen darf, ohne es zu sein.
Freizeit
Der demonstrative Müßiggang war bis ins 19. Jahrhundert eine Demonstration des Adels, »Zeit zu haben«. Für die meisten war selbstbestimmte Freizeit ein knappes Gut, anstrebenswert und wertvoll. Die proletarischen »Brüder«, die zur Sonne, zur Freiheit aufbrachen, vereinten sich in ihrer knappen Freizeit, etwa in Naturfreundejugend, Partei oder Gewerkschaft. Das gemeinschaftliche Wandern in die aufgehende Sonne war eine politische Handlung hin zur Utopie der freien Zeit, fort von der Formel des industriellen Proletariats: Lebenszeit=Erwerbszeit, von der Wiege bis zur Bahre.
Politische Strategien bewirken heute, daß die Menschen angehalten werden, mit ihrer Lebenszeit effektiver umzugehen. So wird etwa die Zeit bis zum Abitur um ein Jahr gekürzt, Studiengänge gestrafft. Die Wochenarbeitszeit verlängert sich wieder, ebenso die Lebensarbeitszeit. Feiertage werden gestrichen, der Sonntag ist nicht mehr heilig. Kurzurlaubende Nordamerikaner und Japaner sind vorbildhaft. Kindertagesplätze werden gefordert, damit sich die Eltern arbeitend verwirklichen können. Der »Wohlfahrtsstaat« kürzt die erkämpfte freie Zeit.
Andererseits haben mehrere Millionen Menschen in Deutschland keine Arbeit, jedoch viel Freizeit. Eine Schicht von Langzeitarbeitslosen lebt ohne existenzielle Not und erfährt teilweise bereits in zweiter Generation: Lebenszeit=Freizeit. Viele haben Probleme, ihre freie Zeit sinnvoll zu füllen und widmen sich allem, was billig ist und dick macht. Suff & Qualm, Computerballerei & Ballermann, Fast-Food & Fast-Flug … Der Milieu-Soziologe Carsten Ascheberg
7) identifiziert eine »hedonistische Unterschicht«, konsumbegeistert und von Werbung leicht zu überzeugen. Ein »abgehängtes Prekariat« 8) umfaßt sozial ausgeschlossene Menschen, rund acht Prozent der Bevölkerung Deutschlands. Reiseveranstalter bieten bereits Hartz-IV-Reisen an, schreibt der Spiegel.
Ob die freie Zeit selbstbestimmt genutzt wird, darf bezweifelt werden, eher handelt es sich um Mißbrauch von Freizeit. Sobald die psychosozialen Folgen allgemein wahrnehmbar werden, greift der Gesetzgeber ein: Fahrverbot & Kfz-Steuer, Rauchverbot & Tabaksteuer, Klimaschutz & Kerosinsteuer, … Wer fliegt, ist schuld am Klimawandel. Konsumbeschränkungen stoßen indessen auf Widerstand der Wirtschaft: Mehr, mehr, mehr soll es werden! Reisekultur? Im harmonischen Wechselspiel von Werbung und Trieben bleibt die Kultur auf der Reservebank.
Konsumzeit
»Die Menschen versuchen verzweifelt, die Früchte der Produktivität und der Freizeitindustrie zu genießen, aber sie wissen immer weniger, wann sie das tun sollen.« 9) Wer erfolgreich sein will, hat immer weniger Zeit für sich. Lange Reisen sind allenfalls als Pausenfüller möglich: nach dem Abitur, vor dem Kinderwunsch, nach der Pensionierung. Oder sie werden funktionalisiert, als Auslandspraktikum oder als Arbeiten im Ausland. Viele »Arbeitsbesitzer« beklagen einen Mangel an Freizeit. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert ist dies jedoch nicht mit wirtschaftlicher Not verbunden. Im Gegenteil: Die knappe verbleibende Freizeit muß effektiv genutzt werden – koste es, was es wolle – und unterliegt damit ähnlichen Bedingungen wie die Arbeitszeit. Reisen mit Erlebnisgarantie. Doch die Doppelbelastung, Produktivität und Konsumtivität zu steigern (»Powershopping«), führt an Grenzen. Wer rastet, der rostet? Doch wer rast, burnt out.
Auszeit
Die eigentlich notwendige In-Zeit – als Versuch rastend in die eigene Zeit zurückzufinden – kann durch Aus-Zeit nicht ersetzt werden. Timeout unterbricht ein Mannschaftsspiel, damit die Taktik angepasst werden kann, es beendet nicht das Spiel an sich. Im Dienstleistungssektor zielt die »Work-Life-Balance« auf ein Optimum zwischen Leben, Arbeit und Gesundheit. Schuften fürs Shoppen. Die Mittel werden optimiert, das Ziel bleibt. Auch das Sabbatical deutet an, daß es im achten Jahr mit der Aus-Zeit aus ist. Wo Zeit die knappste Ressource ist, können Reisen allenfalls »kleine Fluchten« sein, die der Idee des Abenteuers symbolisch huldigen. Abenteuer zwischen Kuchenbüffet und Barbecue-Abend.
C. Muße
Weder Freizeit noch Auszeit, weder produktiv noch konsumtiv, bedeutete Muße ursprünglich eine Zeit, die ihren Wert aus sich selbst schöpft. Sie ist eben keine »besonders raffinierte Form des Hervorlockens schöpferischer Reserven und Arbeitsprozesse …, noch Erholung oder Entspannung im Sinne einer Reproduktion von Arbeitskraft« 10) Muße 11) meint aber auch weder Faulheit noch Untätigkeit. Sie ist eine Zeit, die man dem Dasein widmet, kreativ, selbstbestimmt, in der man das Eigene tut.
In einer solchen Zeit sind unsere Reisen zu suchen. Der globale * Flaneur gönnt sich die Muße zu verweilen, weil der Augenblick so schön ist, er läßt die Welt passieren. Reisen wird zum Mantra von Aufbrüchen und Ankünften, im eigenen Rhythmus schwingend. Die Wahl zu haben, entscheiden zu können, empfinden Globetrotter als Freiheit (dazu in dieser Serie später mehr).
Krause, R.
Benjamins Unterscheidung zwischen Muße und Müßiggang.
In: Muße und Müßiggang im Zeitalter der Arbeit. Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature, Band 11. Berlin, Heidelberg 2021: J.B. Metzler
DOI.
Selbstbestimmte Zeit
Während der Zeit, die Globetrotter reisend verbringen, bestimmen und verantworten sie ihr Leben in einem besonderen Maße selbst. Sie sind bestrebt, diese Grunderfahrung des Reisens in ihr Leben zu übertragen und den Anteil fremdbestimmter Zeit zu minimieren. Freilich, solche »temporären autonomen Zonen« 12) lassen sich nur in sozialen Nischen finden, sofern nicht Geld andere Möglichkeiten öffnet. Oft führt eine solche gelebte Einstellung zu Konflikten oder mündet in eine Außenseiterrolle. Auch Erwerbs-Selbständigkeit ist eine Lösung, andere Lösungen bedürfen des Verzichts auf Konsum oder des Verzichts auf Sicherheit.
Das einfache Leben
Wer aufbricht, nimmt nur mit, was er tragen kann. Es ist eine weitere Grunderfahrung des Reisens zu erfahren, wie wenig man »eigentlich« zum Leben benötigt, ohne dies als Askese oder Verzicht zu empfinden. Ballast abzuwerfen kann ein Glücksgefühl auslösen, das andere fastend oder laufend erleben. Dafür benötigt man Zeit.
Das einfache Leben lobte bereits 1939 Ernst Wiechert in seinem gleichnamigen Kultbuch, heute ist es einer wachsenden Minderheit wieder sympathisch 13). Eine »downshifting«-Welle schwappt von Amerika herüber, als »Tausch einer finanziell attraktiven, aber stresserfüllten Karriere gegen eine weniger anstrengende, aber mehr erfüllende Lebensweise mit geringerem Einkommen« (New Oxford Dictionary of English).
Unerlaubte freie Zeit
»Wer zugibt, viel Zeit zu haben, der disqualifiziert sich selbst und scheidet aus der Gesellschaft derer, die etwas leisten, die etwas fordern, etwas erhalten können, aus« 14). Man fühlt sich nicht verstanden, entscheidet sich anders als die anderen. Viele Globetrotter haben in ihrer Lebensgeschichte die Erfahrung gemacht, daß sie aus dem Rahmen fallen. Als extreme Individualisten leben sie einen »psychischen Nomadismus« (Hakim Bey
), sind soziale Grenzgänger. So läßt sich nur leben, wenn andere Werte hintangestellt werden. Globetrotter nehmen sich unerlaubte freie Zeit, weil sie sich eine Situation schaffen, in der sie niemanden zu fragen brauchen. Dazu müssen Bindungen gelöst werden. Das, was anderen in der Biographie als »Bruch« erscheint, erscheint ihnen als ein gelöster Knoten.
Globetrotter wissen oft nicht, ob sie an die Stelle der Gesellschaft zurückkehren wollen, die sie verlassen haben. So aufzubrechen bedeutet für viele, verstoßen zu werden. Aufzubrechen, weil man will: unbändige Reiselust und wilde *Freude am Unterwegs-Sein zu empfinden ist das Privileg einer Minderheit, jedoch auch ein Privileg, das die Mehrheit kritisch beäugt. Die einen träumen von Reisen und Abenteuern, wir leben sie. Wir sind Monate unterwegs oder gar Jahre – und das immer mal wieder im Leben. Wir haben gelernt Ziele zu erreichen, weil sie ent-rückt sind, aber eben auch, weil sie ver-rückt sind. Wir erreichen diese Ziele auf uns allein gestellt, in der Fremde, wo wir fremd sind und ohne die Regeln zu kennen. Als Fremde sind wir arm an Bindungen, immerhin reich an Möglichkeiten und jeder neue Aufbruch entledigt uns von neuen Bindungen und erweitert den freien Raum.
D. Ein Bewußtsein der Zeit
»Jetzt sieh dir die Leute da vorn an. Sie machen sich Sorgen, sie zählen die Meilen, überlegen sich, wo sie heute nacht schlafen werden, wie viel Benzin sie sich leisten können, wie das Wetter wird, ob sie gut ankommen werden – und dabei kommen sie doch ganz von selber an, nicht wahr? Aber sie müssen sich Sorgen machen und die Zeit verraten mit falschen Dringlichkeiten, aus winselnder Angst, ihre Seelen werden nie Frieden finden, ehe sie nicht einen Grund zu echter, handfester Sorge entdeckt haben und kaum haben sie den Grund gefunden, machen sie auch das passende Gesicht dazu und laufen damit herum, ein unglückliches Gesicht, wie du siehst und die ganze Zeit fliegt das alles an ihnen vorüber, und sie wissen es und auch das macht ihnen Sorgen ohne Ende. Hörst du, hörst du?« 15)
Das Dasein als In-der-Welt-sein ist bestimmt von der Sorge, deren Sinn in der Zukunft zu suchen ist 16). Ohne Zeitbewußtsein gibt es keine Sorge. Jeder von uns hat diesen Zustand erlebt, die meisten haben ihn vergessen. Bis zum Alter von 18 Monaten leben Kinder nur in der Gegenwart. Erst mit etwa 6-8 Jahren können sie vergangene und zukünftige Distanzen abschätzen und die Zeit einteilen. 17) Obwohl das Zeitbewußtsein den Menschen auszeichnet, muß es sich im Laufe der ersten Lebensjahre erst entwickeln. 18)
»Was ist also >Zeit<? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.« 19) Nur weil wir uns an Vergangenes erinnern, Zukünftiges erwarten und beides miteinander verknüpfen können, lassen sich Zeiten messen, meint Augustinus. Er erörterte als erster die unverzichtbare Funktion des Gedächtnisses für die Zeitwahrnehmung. Der Eindruck, daß ein Ereignis weit zurückliege, eine Reise lange gedauert habe oder eine ersehnte Begegnung kurz bevorstünde, sei nämlich nicht an den Geschehnissen selbst ablesbar. 20)
Der erwachsen gewordene Mensch sehnt sich nach einem Ausweg aus der Besorgnis (»glückliche Kindheit«). Der »Philosophenkaiser« Marc Aurel
empfahl das Nachdenken über den Tod. Die Stoiker unternahmen einen imaginären Flug ins All, um zu sehen, wie klein und unbedeutend war, was bedrückend und groß erschien. Das ist der Gewinn des Blicks von ferne. 21) Meister Eckhart
lehrte unter anderem die Achtsamkeit, wie sie auch in traditionellen östlichen Weisheitslehren wie dem Buddhismus tradiert werden. Der islamische Sufismus gibt ähnliche Anweisungen für den »Weg der Derwische«. Dabei wird der Wechsel in das Gegenwartsbewusstsein als Erleuchtungserfahrung bezeichnet. Plotin
beschreibt diesen Zustand durch Selbsterkenntnis, Gegenwärtigkeit und das Loslassen von Wünschen und Zukunftsvorstellunge, als eine raum- und zeitlose Gleichzeitigkeit. 22))
»Du kannst nicht auf dem Pfad gehen, bevor Du nicht der Pfad geworden bist«, sagt Gautama Buddha. Die Metaphern vom Pfad der Erleuchtung oder dem Weg der Vervollkommnung benutzen auffallend häufig das Bild der Reise. Tatsächlich kennen Reisende ähnliche innere Erfahrungen: Unterwegs verschwinden die Sorgen, das Gefühl für Zeitabläufe verändert sich, alles, was wir tun, bestimmen wir selbst, setzen unsere Ziele selbst, schließlich wird die Reise zum Selbstzweck … Ein solcher Zustand ist in der Psychologie als »Flow« bekannt 23). Damit wird das lustbetonte Gefühl des völligen Aufgehens in einer Tätigkeit bezeichnet, als Zustand, in dem Aufmerksamkeit, Motivation und die Umgebung in einer Art produktiven Harmonie zusammentreffen (Wikipedia). Das vom heranwachsenden Kind erworbene Bewußtsein der Zeit »löst sich im Unterwegssein wieder auf … Insofern die Reisenden in der Lage sind, alles, was nicht Bewegung ist, zu vergessen, gehen sie in der charakteristischen Struktur des Reisens auf – die Bewegung reinigt, macht süchtig und wird zur Lust, zum Selbstzweck« 24).
Der Reisende verabschiedet sich damit auch vom sozialen Zeitbewußtsein. Diesem dient Zeit als ein kulturelles Werkzeug, das zwischen den Kräften der Natur, den Menschen und der sozialen Welt vermittelt. Das »Regiment der Uhren« verbindet Arbeit, Kommunikation, Wirtschaft und Technik weltweit. »Um zusammenzuleben, müssen verschiedene Tätigkeiten über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg koordiniert werden.« 25) Indem wir das soziale Zeitbewußtsein anerkennen, erfüllen wir unsere soziale Funktion als Mitglied einer Gesellschaft. Und umgekehrt?
Reisende kennen das Phänomen: Eine Reise, die den Reisenden auch innerlich bewegt hat, erscheint ihm selbst wie eine Ewigkeit. Heimgekehrt wundert er sich, daß dort alles unverändert scheint. Bist Du schon wieder zurück? Den Daheimgebliebenen vergeht die Zeit wie im Fluge. Daher ist die innere Langzeitreise durchaus in einer kurzen äußeren Zeitspanne möglich.
Dem Menschen, der dem inneren oder dem äußeren Weg folgt, ist jedoch nicht anzusehen, ob sein Weg ans Ziel führt: »der gedankenlose Reisende und der in abstrakten Begriffssystemen lebende Gelehrte sind gleich unfähig, sich eine reiche Erfahrung zu erwerben.«26)
In jedem Fall weg-führend ist jedoch der Moment des Aufbruchs, denn »Wer nie geht – kehrt nie heim« (Heinz Rox-Schulz
).
Anmerkungen und Quellen