Das Ende der Welt

Raumvorstellungen

  1. Die konkrete Erfahrung, geographisch so am Ende der Welt angekommen sein, dass der Weg nur zurück führt (non plus ultra) und kein anderes Ziel sichtbar erscheint, lässt sich insbesondere an ausgesetzten und erhöhten Orten - einem [wiki:kap|Kap]]) an der Küste der Ozeane gewinnen, weil andere Gewässer umgehbar sind oder ein jenseitiges Ufer erkennen lassen.
    • Callaghan, R., Scarre, C.
      Biscay and Beyond?
      Prehistoric Voyaging between Two Finisterres. Oxford Journal of Archaeology, 36 (2017) 355– 373. DOI
    • Reinhold Bichler
      Die Fahrt zu den Grenzen der Erde. Von Herodot bis zur Alexander-Historiographie.
      Gymnasium 118 (2011) 315-344 = Latein Forum 85/86 (2015) 45
    • Anna-Dorothee von den Brincken
      Fines Terrae.
      Die Enden der Erde und der vierte Kontinent auf mittelalterlichen Weltkarten.
      Hannover 1992 (Monumenta Germaniae Historica, Schriften 36)
  2. Die vielleicht älteste Vorstellung findet sich beschrieben von Vergil in Aeneis, Buch VI, wo das verheißene Land jenseits von Atlas und Zodiac verortet wird, während der Terminus finis terrae erst später dem Virgil beigelegt wird („ubi aqua maris finitur, ita & finis terrae, quae litore jungitur.“ 1) ). Das Ende der Welt mag damals vielleicht einfach das durch natürliche Grenzen nicht erweiterbare Ende des römischen Imperiums bedeutet haben, das für Vergil in der Aeneis (1,279) ein in Zeit und Raum grenzenloses Reich war. 2) Vergleichbare Raumvorstellungen finden sich in antiken Vorstellungen über die Ausfahrt durch die Straße von Gibraltar (Non plus ultra) und das Ende im Norden (Ultima Thule).
    • Amilcar Guerra
      First Century BC. Where Does the World End?
      S. 48-51 in: Carlos Fiolhais, José Eduardo Franco, José Pedro Paiva: The Global History of Portugal: From Pre-History to the Modern World. Brighton 2022: Sussex Academic Press.
      Mit Verweisen auf Strabo, die drei iberischen Vorgebirge (promontorium), die dort ausgeübten Kulte (phön. Melqart? → Säulen des Melkart) und den Positionsangaben bei Ptolemäus.
  3. Die ältesten Ortsnamen für das Ende der Welt scheinen alle entweder in Europa zu liegen oder sind europäisch benannt und damit aus europäischer Perspektive entstanden. Ob es eine vergleichbare chinesische, afrikanische oder indianische Perspektive auch gibt? Literatur dazu war nicht zu finden.
    1. Kap Finisterre (lat. finis terra, das Ende der Erde) im Nordosten Spaniens an der galizischen Küste wurde in der Antike und im Mittelalter für das westliche Ende der bewohnten Welt gehalten, galt als äußerste Grenze (la última frontera).
    2. Etwa ab dem Jahr 100 galt Finis mundi (lat. das Ende der Welt) als westlichster Punkt Europas, die Halbinsel Punta de la Orchilla auf der Kanarischen Insel El Hierro in der Gemeinde El Pinar, bis der Weg zu den Kanarischen Inseln vergessen und erst im 14. Jahrhundert wiederentdeckt wurde. Hier wurde 1634 auch der geographische Nullmeridian festgelegt, bis dieser 1885 nach Greenwich verlegt wurde.
  4. Meist wird Welt gleichgesetzt mit »der uns bekannten, erlebbaren Welt«, also einem mehr oder weniger großen Raum auf der Erde, mit unterschiedlichen Sphären und Grenzen, an deren Enden das abolute Nichts (lat. vacuum) wartet, die gähnende Leere (altgr. χάος cháos, altnord. ginungagap), ein Maelstrom 3), eine Wüste 4).
    In Werner Herzogs Film Herz aus Glas (1976) wollen vier Männer ans »Ende der Welt« gelangen, um zu sehen, ob dort wirklich ein Abgrund ist:
    »Ja, und dann brechen sie auf, pathetisch und sinnlos, in einem viel zu kleinen Boot.«.
    Von der Leere geht ein Sog aus, der als Schwindel empfunden wird, als l'appel du vide, call of the void: gezogen und getrieben von einem unterschwelligen Impuls, von den Klippen in den Abgrund zu springen, daher auch: high place phenomenon.
  5. Seit die Erde als Kugel betrachtet wurde und seit ihre Oberfläche vermessen ist, wird immer der am schwierigsten erreichbare Ort zum Ende der Welt. Also wirbt Neuseeland als »schönstes Ende der Welt« und damit werben auch Reiseberichte:
    • Messner, Reinhold
      Bis ans Ende der Welt: Herausforderungen im Himalaja und Karakorum.
      München 2014: Malik.
    • Aders, Thomas
      Über die Anden bis ans Ende der Welt.
      Ostfildern 2016: DuMont
  6. Als Metapher verliert die Bezeichnung ihren Bedeutungskern und spiegelt vielmehr die Empfindung der (europäischen) Entdecker, wenn diese geographisch ausgesetzte Punkte bezeichnen als:
    World's End, World's View, Land's End, Edge of the World, Verdens Ende, Le Bout du Monde, Weltende. Umschrieben werden damit Eigenschaften wie einsam, schwer zu erreichen, abgelegen, nur eine Zufahrt, ausgesetzt durch Höhe, eine unbegrenzte Aussicht.
  7. Mit der Kartografierung der Kontinente wurden deren kartographischen »Zipfelpunkte« zum Ende der Welt. So endet die Panamericana bei Ushuaia am südlichsten Zipfel Amerikas, dem Fin del mundo.
    Der südwestlichste Zipfelpunkt Europas findet sich bei Sagres in Portugal; die dort aufgefundene überdimensionale Windrose wird gerne mit Heinrich dem Seefahrer (1394-1460) verbunden und dessen Auftrag ins Unbekannte zu segeln. In den Zipfelregionen finden sich manchmal Museen und Ausstellungen zu Reisenden und Forschern:
    • das Museo del Fin del Mundo in Ushuaia mit Ausstellungen zu Gunther Plüschow (1886-1931), Julio Popper (1857-1893) und Augusto Laserre (1826-1906), zu den Selkńam und Yámana, über Expeditionen, »cartographer and shipwrecks«, Anglican und Sallesian Mission 5)
    • das Polarmuseum in Tromsø und auf Sørøya, mit Ausstellungen über norwegische Polarexpeditionen;
    • das Robben Island Museum auf der Gefängnisinsel vor Kapstadt;
    • die Casa de Colón in Las Palmas de Gran Canaria widmet sich den Reisen des Christoph Columbus;
    • das Wladimir-Arsenjew-Museum in Wladiwostok, benannt nach dem Forschungsreisenden Wladimir Klawdijewitsch Arsenjew (1872-1930), da es aus dessen Sammlungen über den Fernen Osten und Ostsibirien hervorgegangen ist.
    • das Sitka History Museum in Alaska verbindet Exponate der Tlingit mit russischen Wurzeln und Einwandern aus dem Westen ab 1740.
  8. In Kosmologien dagegen entfernt sich das Ende der Welt von der Erfahrung und wird zum Artefakt, abgeleitet aus einem Modell, und drückt ein Nicht-Wissen aus über (lat. Terrae incognitae), die zu Weißen Flecken schrumpfen, bevor sie als Niemandsland (lat. terrae nullius) abgegrenzt werden können. In der Antike bildete sich die Vorstellung von Zonen mit bestimmten Eigenschaften (z.b. die verbrannte Zone, gemäßigte Zone, kalte Zone), die im Mittelalter als Sphaeren bezeichnet wurden, dann aber auch auf Himmlische Sphaeren erweitert wurden.
    • Fritz Krafft
      orbis (sphaera), circulus, via, iter, orbita.
      Zur terminologischen Kennzeichnung des wesentlichsten Paradigmawechsels in der Astronomie durch Johannes Kepler[1571-1630].
      Beiträge zur Astronomiegeschichte 11 (2010) 25–99 (Acta Historica Astronomiae, 43)
  9. Im weitestgehenden Sinne das Ende aller Welten, also im christlichen Glauben der Tag des Jüngsten Gerichts und für Naturwissenschaftler der Zeitpunkt maximaler Entropie, jedenfalls der Untergang der Welt: engl. doomsday, altnord. ragnarök.
1)
Opera P. Virgilii Maronis. … Georgii Fabricii Chemnicensis obseruationes Virgilianæ lectionis. Ex typographia Joannis Kyngstoni, Londini, M.D. LXXVI. [1576]
2)
his ego nec metas rerum nec tempora pono / imperium sine fine dedi
3)
Edgar Allan Poe
A Descent into the Maelström (Eine Fahrt in den Maelstrom)
Kurzgeschichte 1841
4)
Das Leere Viertel, die größte Sandwüste der Erde, die الربع الخالي ar-Rubʿ al-Chali
5)
Alicia Lazzaroni, Silvia Lousto: Museum of the End of the World. Museo del Fin del Mundo. 27 S. Katalog. Ushuaia, Tierra del Fuego, Argentina 2001: Museum of the End of the World.