Die Suche nach den Kindern von Torremolinos
1977 Marokko, Spanien, Frankreich: 4 Wochen per Interrail
Mit 15 wollte ich nach Marokko. In jener Zeit löste nahezu alles ein heißes Fernweh aus: Im Kino begeisterte mich Peter Fonda
und auch ich wollte mit einer Harley Davidson durch die USA fahren. Ersatzweise dröhnte Steppenwolfs Born to be wild aus den Boxen oder On the road again von Canned Heat. Im Musikmagazin Sounds las ich begeistert Berichte über Christiana in Kopenhagen, über den Pudding-Shop in Istanbul und die ersten Overland-Busse nach Indien oder Kapstadt. Dort wurden auch die passenden Bücher empfohlen: Narren des Glücks 1), Trip Generation 2), Bukowskis Gedichte, On the Road 3) … Statt Karl May standen nun Carlos Castanedas 4) Initiationserfahrungen mit Don Juan im Regal. Auch Hemingways Stierlauf in Pamplona 5) lockte mich, doch blöderweise feiern die ihre Fiesta immer außerhalb unserer Sommerferien. Am besten traf dieses Lebensgefühl James Michener in seinem Roman über Die Kinder von Torremolinos 6). Er beschreibt darin ein halbes Dutzend experimentierfreudige Jugendliche aus verschiedenen Ländern, die aus ihrem Elternhaus ausbrechen und deren Lebensläufe sich in Europa, Afrika, Asien kreuzen. Ihre Interessen: Reisen, Drogen, Musik, Sex, Regeln brechen.
Wenn mir damals diese Clique begegnet wäre, hätte ich mich ihr sofort angeschlossen. Durch mein Engagement im einzigen selbstverwalteten Jugendzentrum von Köln hatte ich bereits eine ganz schöne Bandbreite an Typen kennengelernt, ohne daß ich jedoch meine Position in diesem Spektrum gefunden hätte. Da konnte man eine Menge über Bands und Musik lernen oder wie man Shit durch einen Apfel raucht oder wie man sich zuerst bemitleidet und dann aufgibt: No Future. Die Kinder von Torremolinos schienen jedoch eine andere Qualität zu haben, da spürte ich Drive und Optimismus.
Im Sommer 1977 verdiente ich eine Menge Geld als Werkstudent bei Bayer, auf Wechselschicht in der Blausäureproduktion. Zudem hatte ich vor dem Wintersemester noch etwas Zeit, kaufte mir einen Interrailpaß der Deutschen Bundesbahn, einen orangefarbenen Rucksack mit Alugestell, einen amerikanischen Reiseführer (Let’s Go) und fuhr los. Eine knappe Woche später stand ich auf der Dschemaa el Fna, Marrakechs zentralem Platz. Drei Wochen später sah mich der Kölner Hauptbahnhof wieder.
Als ich zurückkam, war ich schon seit drei Tagen pleite. Allerdings stand mir der Sinn eher nach Toilettenpapier als nach Geld, denn seit Madrid war das WC meine zweite Heimat. Mitreisende Spanier fütterten mich mit rohen Knoblauchzehen, ihrer V2 im Kampf gegen erhöhte Darmmobilität. Auf jeden Fall half es gegen distanzarme Mitreisende.
Meine Jeans hatte ich mir bereits in Marrakesch klauen lassen (Jeans waren damals ein begehrtes Statussymbol). Stattdessen hatte ich mir im Souk eine Lammfelljacke aufschwatzen lassen, die zu teuer, zu eng und im sommerlich überhitzten Zug eher hinderlich war. Im Zug saß man im Zug, weil die marokkanischen Kinder Gefallen daran fanden, dessen Fenster einzuwerfen. In Agadir gab es noch keine Wohnmobile, in Asni jedoch bereits eine Jugendherberge mit Frühstück von 5 bis 8 Uhr. Neben dem Bett in meiner Unterkunft hatte jemand an die Wand gekritzelt: »Maroc, the ass-hole of the world.«
In Torremolinos traf ich zwei coole Typen, die recht großzügig mit ihrem Marihuana- und Dopevorrat umgingen. In der Bodega führte das schnell zu vielfältigen Sozialkontakten, alle waren nett, bis auf den Wirt, der nach der spanischen Variante eines Baseballschlägers griff. Nun suchten wir den kürzesten Weg zur Tür, ohne in Reichweite des Knüppels zu kommen. Draußen erwartete uns eine angenehm frische Nachtluft und wir verfielen in einen eher lockeren Trab, denn der Wirt mochte sich nicht allzu weit von seinem Betrieb entfernen. Irgendwo und irgendwann sind mir dabei die Kinder von Torremolinos abhanden gekommen. Und obwohl mir der Aufbruch in den herbstlichen Norden nicht leicht fiel, entschloß ich mich am nächsten Morgen in den Talgo zu steigen und über die prachtvolle Hauptstadt den Weg zum Grenzstädtchen Irun einzuschlagen, mich hin und wieder mit einer Knoblauchzehe stärkend.