»Der Kranke, der monatelang von zuhause weg ist, kommt zurück als einer, dem alles fremd geworden ist.« Thomas Bernhard (1931 - 1989), Wittgensteins Neffe (1982)
Die häufigsten Streitigkeiten in Deutschland sind solche zwischen Nachbarn; »gutnachbarschaftliche« Beziehungen werden meist besonders betont. Die Grenze zum Fremden bilden der Gartenzaun oder gar eine undurchsichtige Hecke. »Nachbarschaft« entstand im Mittelalter aus der Notwendigkeit, dass sich die Bauern eines Dorfes auf Fruchtfolgen und Ackerflächen einigen mussten, weil der Wald drumherum eine natürliche Grenze setzte. Weil es heute weit weniger Wald gibt, finden sich Fremde spätestens nördlich des Weißwurstäquators oder südlich hinter Harburg, weil dort der Balkan beginnt, siehe *Abfahren: Die Fremdheit des Reisens.
Doch wie verhalten sich Globetrotter, wenn sie im heimatlichen Alltag kultureller Fremdheit begegnen? Akzeptiert, wer lange in islamischen Ländern reiste, im heimatlichen Dorf eine Moschee? Oder reagiert er befremdet, obwohl ihm die andere Religion, die andere Sprache, die andere Kultur durchaus bekannt, vielleicht gar vertraut sind? Von der Antwort auf diese Frage dürfte wohl abhängen, inwieweit die verbreiteten Methoden, kulturelle Fremdheit durch Begegnung abzubauen, überhaupt greifen können.
Frank Meier Gefürchtet und bestaunt. Vom Umgang mit dem Fremden im Mittelalter Thorbecke Ostfildern 2007 Pappband 13x21,5 cm: 176 Seiten, 16 Farbtafeln, Literaturverzeichnis
Das Fremde entsteht zwischen dem Eigenen und dem Anderen (siehe Der Trotter 130 und 131). Während die heutige Zeit bemüht ist, die Grenzen dazwischen zu verwischen und das Fremde daher nicht zulassen mag, wurde im Mittelalter das Eigene vor dem Hintergrund von Traditionalität und Autorität genau präzisiert. Der einem zugekommene Platz ist ein Leben lang zu akzeptieren. Das abweichend Andere war daher nah und kam weniger häufig aus der Ferne. Wenn das Nahe schon: Juden, Hexen und Ketzer bot wurde das unbekannt Fremde leicht zum Monster: Gegenfüßler, Menschen mit Hundeköpfen und andere Tier-Mensch-Kreaturen. Ein spannender Ansatz.
Die Farbtafeln zeigen eindrucksvolle Beispiele, welches Bild sich die abendländisch-christliche Gesellschaft vom Fremden machte und grausige Beispiele, wie sie damit umging. Derjenige, der sich in die Welt des Anderen wagte: über den Zaun kletterte und in die Wildnis ging, war der fremde Eigene, spätere Generationen nannten ihn Abenteurer. Der Abenteurer wurde vom Ritter des Frühmittelalters zum merchant adventurer zum Entdecker, Erforscher und Reisenden. Auch das ein spannender Ansatz.
Zu allen Facetten des Fremden bietet das Buch eine Vielzahl von Zitaten aus zeitgenössischer Literatur. Das zeugt von gewaltigem Sammelfleiß. In der Einleitung dankt der Autor der Lektorin des Verlags, die das Manuskript erst habe lesbar werden lassen. Lesbar ist es, gewiss, sogar sehr gut, aber das Gerüst von rund 50% Zitaten läßt wenig Raum für weitere Inhalte. Das Buch will gefallen, den Leser faszinieren und nicht anstrengen und so tänzeln die Gedanken oberflächlich um ein Zitat und trippeln dann schnell weiter zum nächsten, ohne nach Tiefe zu suchen. Die Fülle der überaus interessanten Beispiele wird aber nur kurz gedeutet und kaum in einen größeren Zusammenhang gestellt, bleibt beschreibend. Eine Analyse deutet sich lediglich im Vorwort an und im Ausklang und zeigt, daß der Autor durchaus mehr zu sagen hätte.
Amartya Sen Die Identitätsfalle Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt C.H. Beck München 2007 Deutsch von Friedrich Griese (Identity and Violence. The Illusion of Destiny) 14x21,5 cm: 208 Seiten, Anmerkungen, Personenregister.
Sens These klingt plausibel: Es gibt ein menschliches Bedürfnis, zugehörig zu sein, also verstanden und aufgenommen von einer Gruppe, identisch mit einem Ideal. Die »globalisierenden Einflüsse« dagegen zerstreuen, relativieren, stellen in Frage, sind bedrohlich. Das Individuum fühlt sich ohnmächtig angesichts globaler Mächte (Wirtschaft, fremde Kultur …). Werden deren Folgen auch noch negativ empfunden (z.B. Arbeitslosigkeit) so finden manche Zuflucht in einfach strukturierten Gemeinschaften mit eindeutigen Werten. Diese können für Intoleranz, Fanatismus, Fundamentalismus instrumentalisiert werden.
Ilja Trojanow, Ranjit Hoskoté Kampfabsage Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen Aus dem Englischen von Heike Schlatterer 1. Auflage, Blessing München 2007 Einband mit Schutzumschlag. 13,5 x 21 cm 238 Seiten, Anmerkungen, Bibliographie
Der fromme, im Untertitel formulierte, Wunsch ist sympathisch. Ein fulminantes Feuerwerk zeigt, was wir aus anderen Kulturen und Regionen übernommen haben. Wohl wahr. Doch ob der Pfeffer aus Burma, die Tomate aus Amerika, das Wort Alkohol aus dem Arabischen und das Feuerwerk aus China anzeigen, das mit ihnen auch kulturelle Techniken übernommen wurden, erscheint mir sehr zweifelhaft.
Hans Nicklas, Burkhard Müller, Hagen Kordes (Hrsg.) Interkulturell denken und handeln Theoretische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis Campus Frankfurt 2006 15x23 cm: 424 Seiten, Autorinnen und Autoren, Register der Schlüsselbegriffe
42 Beiträge deutscher und französischer Wissenschaftler, die das gesamte Spektrum der »Interkulturalität« abdecken. Da ist sicher für jeden etwas interessantes zu finden; besonders hilfreich ist die Klärung von Begriffen und Geschichte in den ersten fünf Beiträgen. Viele Reisende werden auch die folgenden Themen lesenswert finden: Ethnozentrismus, Xenophobie, Exotismus; Die Komplexität der Vorstellung vom Anderen; Suprakulturindustrie; Interkultureller Umgang mit Fremdheitserfahrungen; Die biogaphischen Formen des Schreibens …
Tobias Gohlis, Christoph Hennig, Jürgen Kagelmann, Dieter Kramer, Hasso Spode Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung Band 2 (1998) : Das Bild der Fremde Köln: Dumont. 16,5x24 cm: 200 S., Abb.
Reisen und Imagination ist Thema des zweiten Bandes und beschreibt das Bild der Fremde in den Köpfen: Das Meer – Das Reisegefühl der Rockmusik – Sesselreisen in Büchern – die Suche nach Shangri-La – Sehnsucht nach Natürlichkeit – Image von Reisezielen.
Der Band schließt mit Buchkritiken, Zahlen und Trends zum Tourismus sowie Kurzfassungen der Beiträge anstatt eines Registers.
Interessant ist die interdisziplinäre Mischung: Soziologen und Historiker, Journalisten und Nachwuchswissenschaftler schreiben hier auf hohem Niveau wissenschaftliche Beiträge, aber auch Essays. Hilfreich wären allerdings jeweils kurze Bibliographien zu den Themen außerhalb der Anmerkungen. – Aber die Bindung, eijeijei: Wenn das Buch doch nur etwas haltbarer wäre!
Bauer, Thomas
Duala-M’Bedy, M.
Ganeshan, Vridhagiri
Lenz, Bernd, Lüsebrink, Hans-Jürgen
Magill, Daniela
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