Hodoeporicon

  1. Das altgriechische ὁδοιπόρικος hodoipórikos meint „zur Reise gehörig“, zusammengesetzt aus ὁδός hodos für den Weg zwischen zwei Orten, Straße, Reise und πορεύομαι poreuomai für das Hingehen im Sinne von zur Reise aufbrechen.
  2. Mit Hodoeporica (Mehrzahl) wird eine Reiseliteraturgattung der frühen Neuzeit bezeichnet, die Elemente von Reisedichtung, Reisebeschreibung und Itinerarien umfassen kann, siehe auch die Zeitleiste der Reiseanleitungen. Ihre Eigentümlichkeit erhält diese Gattung durch die gleichzeitige Bedingtheit äußerer und innerer Reise, von Reiseschilderung und Selbsterfahrung, -erkenntnis und -verwirklichung als Lebensreisestil. Frühe Hodoeporica bezeichnen daher auch Biographien als Lebensweg: »Hodoeporica sive Itinera Sanctorvm Patriarcharvm: Abrahami, Isaci, Lothi, & Iosephi: Scripta carmine Elegiaco« 1).
  3. Das vielleicht früheste Hodoeporicon als Beschreibung einer tatsächlichen Reise dürften die Versus Marini des Amalarius von Metz/Amalarius Fortunatus (etwa 775 - 850) sein. In seiner Zeit als Bischof von Trier (809-814) begleitete er 813 im Auftrag Karls des Großen den Abt Peter von Nonantola nach Konstantinopel zu Kaiser Michael I. Sein Hodoeporicon in lateinischer Gedichtform in 80 Hexametern ist weniger ein Bericht als eine erlebnisorientierte Reisebeschreibung 2) einer via longa, laboriosa, periculosa, also lang, mühsam und gefährlich.
  4. Im Unterschied zum mittelalterlichen-klerikalen Denken ist darin zweierlei Neu:
    1. Reisen kann zu Erkenntnis führen und
    2. Das Ich des Reisenden wächst durch seine Erfahrungen.
    Damit bilden Hodoeporica die Wurzel für die »humanistische Gelehrtenrepublik« und für die Bildungsreise, aber auch für die literarische Gattung der Autobiographie. Stellvertretend dafür steht das Odeporicon von Johannes Butzbach (1505/06).
  5. Der Erfolg der Hodoeporica und ihrer Nachfolger wurde erst möglich mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg im 15. Jahrhundert, denn bis dahin wurden Schriften nur in Klöstern handschriftlich kopiert und waren so einer Auswahl unterworfen. Die klösterlich gepflegte stabilitas loci war mit einer weltlichen Reisedichtung kaum vereinbar. Außerhalb der Klöster fanden sich Kleriker, die sowohl reisten als auch schreiben konnten, als Pilger, Vaganten und Scholaren.

1)
Bollinger, Ulricus
Hodoeporica
Tubingae 1595: J. Kircher
2)
MGH, Poetae I, S. 426-428
Marx, Jacob
Geschichte des Erzstifts Trier … bis zum Jahre 1816
Bd. 1.1, Trier 1858, S. 406-407
Cabaniss, Allen
The Literary Style of Amalarius: A Note
Philological Quarterly; Iowa City Bd. 31, (1952) 423
Bobrycki, Shane
A Hypothetical Slave in Constantinople: Amalarius's Liber Officialis and the Mediterranean Slave Trade
Haskins Society Journal 2015. 26: 47-68.