Reitwagen
Radfahrzeuge in ihren je eigenen Bauarten dienten ursprünglich dem Transport von Lasten, später transportierten sie Menschen und zuletzt dienten sie dem Vergnügen. Einachsige Fuhrwerke heißen Karren (lat. carrus, gallisch benna), zweiachsige heißen Wagen (lat. currus). Der Begriff `Reitwagen´ wurde historisch für unterschiedliche Bauarten und Nutzungen verwendet, dabei ist `Reit´ mehrdeutig.
- Im Frühmittelalter als Ackergerät
1844 beschäftigte sich der Director des Landesarchivs KarlsruheFranz Josef Mone
1) mit den ursprünglichen Bezeichnungen der Radfuhrwerke als Ackergeräte und führt auf:- rheda, Reita, vehiculum, Reitwagen;
- carrus Karren, carruca Karch im 4. Jahrhundert birotum, birota, zweirädriges Fuhrwerk
- im Gegensatz zum Chanzwagan d. i. mit 4 Rädern;
- arcera (von arca) gallisch benna, jetzt noch Benne, Kastenkarch;
- plaustrum Leiterwagen
- chiramaxium Handwagen Schubkarch
- currus armatus bedeckter Leiterwagen
- Im frühen Mittelalter als Reise-, Pack-, Kriegswagen (lat. currus, quadriga)
Alt- und mittelhochdeutsche Belege stehen ebenfalls im Zusammenhang mit kriegerischen Maßnahmen, z.B. »dise uf den raeitwagen un dise uf den rossen wir aber in dem namen gotes«, unterscheidet aber das Reitvolk auf den Reitwagen von den Rittern auf den Rossen und erscheint auch als kriegerischer Packwagen »sehshundert reitwagene die wâren wol geladene« 2). - 1525 Bauernaufstand im Samland
»Andreas Rippe und Hanß Götze hatten auf einen Reit-Wagen die Rücken zusammen gekert, und die Beine hingen zu beyden Seiten ab.« (S. 536)
»… und wurden viel Wagen mit Spiessen vollwolbeladen, auff das Schloß geführet, ward darnach einem jeden frey zunehmen, Eber-Spieß und Schwerdter wer nur wolte.« (S. 560) 5) - 1659 Transport von Personen
»Dan große läste wird auff dem lastwagen (plaustro) geführt;
rauhe auf dem sterzwagen;
die leuth selbst auff dem reitwagen (rheda);
welcher leicht ein rollwagen (essedum > Streitwagen) ist;
halb eine kutsch (cisium);
mit breter fug bedekt ein dekwagen (arcera);…« 6).
Der Reitwagen wird hier von der Kutsche unterschieden, welche erst zum Ende des 15. Jahrhunderts aus Ungarn (Koc) eingeführt wurde und sich durch die technische Bauform mit gefedertem Aufbau von herkömmlichen Wagen unterschied. - Als breiter Reisewagen, Erntewagen (für Garben)
Lehnwort im Polnischen rydwan und Russischen рыдва́н 7) - Im 19. Jahrhundert in Preußen eine leichte Droschke
»Leichte Droschke … in der man rittlings sitzt« 8) mit Verweis auf den älteren Gebrauch als »Reise-, Pack-, Kriegswagen«. - 1843 bezeichnete Reitwagen das neu erfundene Laufrad mit zwei Rädern auf zwei Achsen
(»Draisine«, noch ohne Kurbelantrieb) 9) - 1885 Reitwagen als Name des ersten Motorrades (mit zwei Stützrädern)
Wilhelm Maybach
undGottlieb Daimler
hatten 1885 die »Standuhr« entwickelt, einen schnelllaufenden Viertaktmotor. Darin beschleunigen die explosionsartigen Verbrennungen einen Kolben, der wiederum eine Kurbelscheibe antreibt. Das sollte für Testläufe vom Versuchsstand auf ein mobiles Fahrzeug übertragen werden. Technisch erfordert dieser Schritt zusätzlich eine Kupplung, ein Getriebe, einen Gaszug, Lenkung und Bremse, damit die Fahrt zerstörungsfrei erfolgen kann. Das einfachste Fahrzeug, das diesen Anforderungen damals am nächsten kam, war das Velociped (Fahrrad) mit Kurbelantrieb, für das 1879/1884 die Kettenübersetzung entwickelt wurde. Der Reitwagen erhielt allerdings ein Zahnradgetriebe (Abbildung) sowie seitliche Stützräder.
Die Bezeichnung Reitwagen kommt offensichtlich weder von reisen noch von reiten 10). Als Wurzel bietet sich die Reite an, »der freie hofplatz in einem landgute« (Adelung), der sich in Hofreite, also dem eingefriedeten Bereich um ein Landgut, erhalten hat und bedeutungsähnlich vorliegt in Reede als »ort wo schiffe zur fahrt ausgerüstet werden«, daher war reite »ursprünglich der platz … wo zubereitungen, arbeiten vorgenommen werden« 11). Reitwagen ist also ein Arbeitsgerät für die Hofreite, wobei `Wagen´ aus indogermanischem *u̯eg̑h- bewegen, ziehen, fahren, abgeleitet ist. Das althochdeutsche reitirosso ist daher ein Wagenpferd, kein Reitpferd. Auch gehört das Reitgesinde nicht zum Reiter sondern zum Reitwagen: »ih habo dih, fruintin min, geebenmazzot minemo reitgesinde an den reituuagenon«, reitweko bezeichnet den Fuhrmann.
Im Lateinischen ist raeda »ein größerer, vierräderiger Reisewagen, auf dem mehrere Personen mit Gepäck Platz hatten« 12), ebenso keltisches reda 13), letztlich aus indogermanischem *reidʰ- mit der Bedeutung `fahren, in Bewegung sein'. Damit verbindet sich auch die Bedeutung der althochdeutschen Form Reita 14).
Hamm, Marlies
Der deutsche „Lucidarius“.
Band 3, Kommentar. De Gruyter, 2016, S. 160,29 dort weitere Belege.
Frischbier, Hermann
Preussisches Wörterbuch: Bd. L-Z. Nachträge und Berichtigungen. Berlin 1882: Th. Chr. Enslin
„reit-wagen, stm.“, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer.
Hirschfeld, Joseph
Schemoth hannirdaphim, oder, Synonymik : zur Beförderung der hebräischen Sprache, vornehmlich für hohe Schulen und für alle, die sich in dieser Sprache richtiger Ausdrücke bedienen wollen …
2. Verb. Ausg. VII, 224 S. Leipzig 1831: J.A. Barth. S. 149
Johann Jakob Redinger
Spielschule oder Lebendiger Künsten-Kreis: Das ist Schawspielige Übung Der Sprachen- und Sachen-Thür.
S. 323 Hanau 1659: Jacob Lasché
Rita Plos
Deutsche Entlehnungen im russischen etymologischen Wörterbuch von Max Vasmer.
Diplomarbeit bei
Branko Tošović
, Karl-Franzens-Universität Graz 2014 S. 245, Bezug auf Vasmer 2: 555.Hermann Frischbier
Preußisches Wörterbuch
Bad. 2 S. 222 Königsberg 1882/83
„reiten, starkes verb.“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm.
Georges, Karl Ernst
Kleines Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch.
9. Verb. und verm. Aufl Hannover 1909: Hahn.
Alois Walde
: Lateinisches etymologisches Wörterbuch. Stichwort rēda (raeda) < air. de-riad „bigae„, mir. riadaim ich fahre und mit Verweis auf Quintilian I, 5, 57;Dottin, Georges
: La langue gauloise. Paris 1920: C. Klincksieck.Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Online