Dieser russische Begriff mit Sinnbezug zu `umherschweifen´ beschreibt etwa ab dem 15.–16. Jahrhundert eine Lebensform, die vom einfachen Volk praktiziert wurde, also Wandern ohne ein örtliches oder räumliches Ziel, jedoch verbunden mit Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung (synonym: begunstvo, skital'cestvo). Diese transzendente Eigenschaft teilte es mit dem Pilger (strannik »странник«). Dieser selbstgewählten Reiseform steht in Sibirien das brodjaznicestvo (Landstreichertum) gegenüber, bestehend aus den brodjagi, entlaufenen Sträflingen 1) sowie schließlich niščie und zaprosčiki (Bettlertum) - allesamt gulyashchie lyudi 'fahrendes Volk'.
Diese Art des Wanderns erscheint insbesondere an der Peripherie des russischen Raumes und war charakteristisch für Sibirien. Die Mehrzahl der russischen Einwohner Sibiriens waren Promyšlenniki, gewerbsmäßig reisende Pelzjäger. Hinzu kamen die Stranničestvo und gegen Ende des 19. Jahrhunderts jährlich rund 19.000 vom Zaren »Verschickte«: Zwangsarbeiter für die Bergwerke, Zwangssiedler für Dörfer, Sträflingskolonien 2); sowie Verbannte und Vertriebene - allesamt Heimatlose. Das Land wurde kolonisiert durch wandernde Waldläufer (brodyachyaya zverolovcheskaya kolonizatsia) und Abenteurer (adventyuristy) 3).
Die Größe des Raumes, die klimatischen Verhältnisse in Tundra und Taiga, die besondere Infrastruktur (Ice Roads, Rasputica) und der Mangel an Fahrzeugen ermöglichten es den Herrschern, einen ganzen Landesteil als »Gefängnis« zu nutzen, das durch Eis, Wüsten und Gebirge abgeschlossen war. Unter diesen Umständen hat die Metapher des Weiten Landes eine andere Bedeutung als in Europa:
inmitten dieser leeren Wälder »средипустынниыхсихлесов«
in diesem öden, fernen Land »Встранеглухой, встранесейдальной«
der Wanderer in der aufgeklärten Wüste »Впустынестранникпросвещенной«
in der bewaldeten Ödnis »вглушилесной«
Inmitten von Wäldern und dräuenden Felsen,/ Freudlos wie ein ewiger Gefangener
»Междулесовигрозныхскал,/ Каквечныйузникбезотраден«
Mit diesen von ihr übersetzten Zitaten 4) belegt Anne Klier
ein Konzept »der Gefangenschaft in der Leere der Natur« 5) und verortet hier deren spezifische Literatur - Katorga - mit starken Bezügen zur sibirischen Reiseliteratur.