Ovidius Naso
(43 vor bis 17 nach Christus), Metamorphosen 6, 146; 15
Im Lateinischen als vagare ursprünglich ein weiter Begriff für alles was und für jeden, der sich bewegt:
»Nec caelo nec humo nec aquis dea vestra recepta est: exsul erat mundi, donec miserata vagantem ‘hospita tu terris erras, ego’ dixit ‘in undis’ instabilemque locum Delos dedit.« 1). Dabei jedoch von anfang an die Vagheit betonend als vagus ‘umherschweifend, -streifend, unstet, ungebunden’. Dann als Vagantēs 2) zum Stereotyp werdend für umherschweifende Menschen mit besonderem Status und immer unterscheidend zur positiv bewerteten peregrinatio.
Im frühen Mittelalter (5.-6. Jahrhundert) die Bezeichnung für umherziehende Geistliche (lat. clerici vagi) in vielen Formulierungen und Schreibformen, vereinzelt traten gar Wanderbischöfe episcopi vagantes und Presbyteri vagantes auf, immer per pedes apostolorum, immer unter dem misstrauischen Auge der Kirche, die die stabilitas loci bevorzugte. Manchmal synonym für Wandermönche auf der Peregrinatio religiosa im allgemeinen und im Besonderen für Angehörige (Mendikanten) der Bettelorden wie etwa der Franziskaner sowie für jene, die es ihnen äußerlich gleichtaten, also frömmelnd bettelten:
»Ecce sacerdotes vagant, populus claudicat, Ecclesia decrescit.« 3)
sowie für Söldner: »Milites. Libere vagant, thesauros Constantiae erogant.« 4).
Im frühen Christentum gab es noch eine Fürsorgepflicht für Fremde. So trug 398 das Konzil von Karthago den Bischöfen auf, außer den Klöstern auch ein Fremdenhaus (gr. Xenodochium) zu errrichten. Im oströmischen Raum wurden zahlreiche solcher Xenodochien gebaut, im weströmischen Reich gab es sie kaum, doch im 8. Jahrhundert war ihre Zeit überall abgelaufen, jedoch wurden sie im fränkischen Raum durch Hospitäler abgelöst.
Jetzt reicht mir Stab und Ordenskleid Der fahrenden Scholaren, Ich will zu guter Sommerzeit Ins Land der Franken fahren! Joseph Victor Scheffel (1826 - 1886), Wanderlied (Auszug)
Die Laterankonzile von 1179 und 1215 verpflichteten alle Kollegiatkirchen, neben den jungen Klerikern (clerici vagi) auch arme Schüler zu unterrichten (»scolares et pauperes quibus de est pecunia«). Bernhard von Chartre verlangte von den Scholaren: »Mens humilis, studium quaerendi, vita quieta, Scrutinium tacitum, paupertas, terre aliena, Haec reserare solent multis obscura legendi« 5). In Braunschweig wurden 1251 pauperes (Arme) neben den scholares canonici erwähnt 6). Danach erst erschienen wandernde Scholaren (»Scholar vagus, goliardus, ioculator«) in nennenswerter Zahl, als Gruppe mit kirchlichem Segen und als Arme auf das Betteln angewiesen.
»Was dann noch fehlte, ersetzte das Almosen, das singend an den Thüren erbeten wurde. Wo die Söhne des heiligen Franziskus
den Bettelsack trugen, war es auch für die armen Schüler keine Schande von Haus zu Haus milde Gaben zu heischen. Hat doch selbst Luther
ohne ein Gefühl der Beschämung erzählt, dass er in seiner Jugend auch so ein Partekenhengst gewesen sei, der an den Thüren um Brot gesungen. … Für viele war das Studium nur ein Vorwand, um ohne Arbeit ihre Nahrung zu gewinnen. Gar mancher trieb sich noch als Schüler umher, wenn längst schon der Bart ihm die Wangen umschattete. Die Sitten solcher Burschen waren nicht immer die besten; die Begriffe von Mein und Dein wussten sie nicht immer mit Sicherheit zu unterscheiden; gegen die Lehrer waren sie frech und widerspenstig und liefen davon, wenn ihnen eine Strafe bevorstand. »Vagantes« nannte diese Proletarier der Wissenschaft die Schulsprache der Zeit, Bakchanten der Volkswitz. Auf manchen Städten lasteten sie zuzeiten wie eine Landplage« 7).
Land of Cockaygne (Cockaigne, Cockayne, Cucaniensis) ist der Titel eines Buches aus dem 13. Jahrhundert (London, British Library, MS Harley 913, ff. 3r-6v), das vermutlich in Irland von einem Wandermönch geschrieben wurde und im Stile der Vagantendichtung lebenslustig nichts auslässt, was Spaß macht: Es regnet Käse, Nonnen entblößen sich, Mönche verprügeln Äbte. Solch dionysische Entgrenzung, Völlerei und Überfluss gibt es im Land of Cockaygne, das als englische Metapher für Schlaraffenland gelten kann oder für das italienische Paese della Cuccagna. »Ego sum abbas Cucaniensis« (Ich bin der Abt von Cockaygne) ist ein Sauflied der Vaganten in der Carmina Burana betitelt.
In dieser Schicht entstand noch im Mittelalter die Vagantendichtung im Unterschied zur höfischen Dichtung und zur geistlichen Literatur und Musik; als Ideal dachte man sich den Archipoëta des 12. Jahrhunderts. Diese zweite Wurzel der Vaganten führt daher zum fahrenden Spielmann, der gleichwohl mit lateinischen Liedtexten vertraut war. Die weltlichen Themen der Vagantendichtung kreisen um den Alltag und die Sinnlichkeit; als älteste Quelle gilt die Carmina Burana aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts.
Nicht zu arbeiten, jedoch zu genießen und sich über die »anständigen« Leute zu belustigen, galt im Kreise der Vaganten und ihrer Nachfolger als ehrenvoll. In Frankreich waren die Künstler-Vaganten besser unter dem Namen Goliarden bekannt. Der französische Vagantendichter Francois Villon
(1431 bis etwa 1464) blieb wegen seiner dichterischen Leistungen berühmt und machte sich als erster Poet überhaupt selbst zum Gegenstand seiner Dichtung: »Villon – das bin ich«: der Einzelne als Held.
Seine eigensinnige und selbstbewusste Lebensart machte ihn bis in die Gegenwart zum Vorbild vieler Künstler wie etwa für Paul Verlaine
, Arthur Rimbaud
(Un cœur sous une soutane), Bertold Brecht
(1928: Dreigroschenoper), Wolf Biermann
(1968: Ballade auf den Dichter François Villon), Reinhard Mey
(Mädchen in den Schänken), aber auch Klabund
Der himmlische Vagant Ein lyrisches Porträt von François Villon [in 34 Versen] München 1919: Roland-Verlag (später: Köln 1968) und Klaus Kinski
(1960: Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund).
Julius Wilhelm Zincgref, Alexandrinus Hierocles
Solch ein verruchtes Leben fanden anscheinend viele attraktiv. »Fahrende Schüler« und Studenten und solche, die sich dazugesellten erlebten ihre Hochzeit im 17. Jahrhundert und gaben sich über die Jahrhunderte alle Mühe, an ihrem schlechten Ruf zu arbeiten 8) als ummeloper, Herumläufer, Hausierer', Rumlääfer, umherziehende Sänger, Spielmann, erraticus homo.
Melanchthon
kennzeichnete 1557 den Theologen Theobald Thamer
als »Thammero vagante« in der Diözese Minden und schmäht ihn im ersten Satz als »homo rabiosus et fanaticus« 9).
1668 wehrt sich ein anonymer studentischer Autor und beschreibt ausführlich die Unterschiede zwischen ehrlichen Studenten und Vaganten 10), die er in Gruppen unterteilt:
Abraham a Santa Clara
meinte 1686: »er war ein sauberer Bruder voller Luder, ein Vagant, ein Bachant, ein Amant, ein Turbant, ein Distillant« 11) und 1702 heißt es gar: »böser Leute (die man vagirente Scholasticos nennte)« 12).
Hin und wieder werden Vaganten auch Ribaldus genannt, also liederlicher Kriegsknecht, Lüderjahn, Wüstling, etymologisch abgeleitet vom französischen ribaud und althochdeutschem hriba `Suff´ 13), also geriebene und durchtriebene Gesellen und Gauner.
Ab dem 17. Jahrhundert verdrängt der rundum abwertende Begriff Vagabund den Vaganten zunehmend, sowohl begrifflich als auch figürlich, denn die Scholaren verschwanden, weil sich die Gesellschaft wandelte; die wachsenden Städte erzeugten neue mobile Gruppen. Während die Lieder der Carmina Burana bis heute gespielt werden und Francois Villon weiterhin Aufmerksamkeit erfährt, fand die Figur des Vaganten keine Apologeten und wurde kaum romantisch verklärt - ganz im Unterschied zum Vagabunden.
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Ovidius Naso
(43 vor bis 17 nach Christus), Metamorphosen 6, 146; 15Agnellus
sive Andreas Ravennatensis (um 805–846), Liber Pontificalis, 106, 0605C, 265, 40, 71; 17 s. MLS Corpus corporumMiethke
, Fußnote 7Karl Kehrbach
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]Karl Kehrbach
(Hg.)