von Norbert Lüdtke
erschienen erstmals 1995 als Teil 3 in der Artikelreihe Geschichten des Individuellen Reisens im TROTTER 77 (Deutsche Zentrale für Globetrotter e.V. DZG) sowie 1999 im Archiv zur Geschichte des Individuellen Reisens AGIR
→ Literaturliste Fahrendes Volk mit den Quellen zu diesem Beitrag
Die reisenden Helden aller Zeiten sind meist tragische Gestalten: der Ritter Don Quijote, der Tramp Charlie Chaplin oder Dennis Hopper in Easy Rider. Der Mensch sehnt sich nach Reisen – und nach Sicherheit. Reisende aus Berufung verzichten jedoch auf das soziale Netz. Warum vergeuden sie scheinbar unnütz ihre Zeit und verehren die Helden von Karl May, Jack London oder B. Traven?
Kein Museum setzt diesen Rittern der Landstraße ein Denkmal, seit das *Abenteuermuseum in Saarbrücken 2004 geschlossen wurde. Das *Archiv zur Geschichte des Individuellen Reisens AGIR, sammelt und ordnet die unbeachteten und oft einmaligen Zeugnisse meist unbekannter Reisender.
Die Straße ist ein Meister mit Hammer, Stichel und Stein. Sie grub in meine Visage die ganz große Blamage bewundernswert hinein. J. Mihalyi
Um 1900 sind auf den Straßen Deutschlands viele Menschen zu Fuß unterwegs, aus Not, durch Zwang, mehr oder weniger freiwillig: Randgruppen mit ähnlichen Nöten und eigenen Gesetzmäßigkeiten. Insbesondere drei große Gruppen lassen sich erkennen, wenn auch nicht immer unterscheiden:
Wie reiste das fahrende Volk? Was waren ihre Techniken des Unterwegs-seins? Um das herauszufinden, wird nachfolgend immer wieder aus den veröffentlichten Berichten einzelner Reisender zitiert - einige davon tauchen besonders häufig auf (In Klammern der jeweilige Reisezeitraum):
Johann Eberhard Dewald
(1836-1838) ist ein viel verwendetes Beispiel für den typischen reisenden Gesellen im 19. Jahrhundert.Alois Zettler
(1872-1876) steht für den Gesellen aus dem großbürgerlichen Milieu und wird später Unternehmer.Winnig
(Mai 1896-1898) und Schroeder (Mitte 1922-Dezember 1923) kommen aus ArbeiterfamilienPfarre
(August 1912-März 1913) aus einer Handwerkerfamilie.Franz Heinrichs
(Juni 1896-Oktober 1898) steht für den Übergang zum modernen Reisenden, er nutzt jedoch die gesellschaftliche Legitimation und die vorhandene Infrastruktur der Gesellen.Hasemann
(um 1910) ist ein Beispiel für den Künstler-Vagabunden.
Kurzbiographien dieser Walzbrüder finden sich im letzten Kapitel. Schroeder und Heinrichs sind leidenschaftlich Reisende, während Winnig und Pfarre mit dem Reisen experimentieren und auf Distanz bleiben. Entsprechend unterschiedlich sind ihre Erfahrungen zu bewerten. Allen diesen Reisenden ist eines gemeinsam: sie haben ein Buch geschrieben. Und jeder von ihnen hat eine ästhetisch-literarische Ader. Sie haben einen Hang zum Künstler und leben ihn mehr oder weniger aus: Pfarre ist ebenso wie Hasemann Bildhauer, möchte Dichter sein; Winnig ist Maurer und schriftstellert in seiner zweiten Lebenshälfte, ebenso wie Schroeder.
Häufig verwendete rotwelsche Ausdrücke aus der Kunden- oder Gaunersprache werden in den Fußnoten erläutert.
In der Fremde will ich lernen Biografien bayrischer Handwerker aus den letzten beiden Jahrhunderten Haus der Bayrischen Geschichte Augsburg 2006, Text: Falk Ohorn ISBN 3-937974-13-x Der Historiker Ohorn recherchierte die Reisegeschichte von acht Handwerkern: Ludwig Köck (»Abu El Kismet«), Seraphin Hoegner, Thomas Wimmer aus Siglfing, Martin Irl aus Erding, Georg David Bilgram aus Memmingen und anderen.
Was bewog junge Burschen nach der Lehre dazu, Monate und Jahre auf die Walz zu gehen, die Sicherheit von Heimat, Beruf, Elternhaus aufzugeben zugunsten Hunger und Not, einer ungewissen Zukunft, ausgeliefert dem Wetter und der Willkür fremder Menschen? Die Antwort ist vielschichtig:
„Schon in der frühesten Jugendzeit war mein [Heinrichs] sehnlichster Wunsch, zu reisen. Nicht per Bahn oder per Schiff, nein, auf Schusters Rappen wollte ich die Welt durchwandern. Durch meiner Hände Arbeit wollte ich mir mein Brot verdienen. Abwechselnd arbeiten und weiterziehen war mein Vorhaben. Darum erlernte ich auch das Handwerk, das mir, obgleich meinen Wünschen nicht ganz entsprechend, zum Wandern am vortrefflichsten schien: ich wurde Friseur, oder, wie es unter Walzbrüdern heißt, `Doktor der Schaumschlägerkunst´.“
Seine Vorstellung einer Walz entspringt alten Zeiten: „Den derben Knotenstock in der Hand und das Ränzel auf dem Rücken, wurde die Welt durchkreuzt. Frohgemut ging es von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort; bald allein, bald in Gesellschaft von mehreren lustigen Brüdern.“ 1)
Dieses Ideal ist nicht durch praktische Erfahrungen getrübt und Heinrichs kennt nur drei Dinge, die es stören:
Fachliche Fortbildung spielt keine Rolle - im Verlauf der Reise gibt es nur drei Situationen, in denen er sein Handwerk einsetzt. Ihm dient die Walz als Mittel zum Zweck, zur Legitimation, reisen zu können.
Alfred Pfarre kann auf Erfahrungen aus dem Wandervogel-Milieu zurückblicken. Er will seiner Kündigung zuvorkommen, denn es gibt keine Arbeit für Bildhauer in Hamburg: „Meister, gebt mir die Papiere, ich will in die Welt hinaus!“ Doch er ist Handwerker und Ästhet, kein Kunde 5): er mag sich nicht erniedrigen und demütigen lassen, versagt sich das Betteln. Er ist ein Träumer, der Italien sehen und die Kunst studieren will. 6) Ihn treibt die Reiselust, doch fehlt es ihm an Mut: „Gern wäre auch ich in Afrika gewesen, er [ein Vagabund] drängte mich, mitzufahren, doch ich hatte den Mut nicht mehr, ich mußte ja mehr einsetzen als er.“ 7)
Als Schroeder seine Ausbildung zum Installateurgesellen bei den städtischen Gas- und Wasserwerken abgeschlossen hat, liest er am schwarzen Brett: „Den Installateurgesellen, die bei uns gelernt haben, wird anheimgestellt, sich anderweitig in ihrem Fach fortzubilden.“ 8) Die Gelegenheit nimmt er gerne wahr und hat noch am selben Abend seine Papiere in der Tasche. Beweggründe finden sich genug: Die Kollegen sind ihm gleichgültig, Abenteuer findet er prickelnd, die Vorstellung zu reisen, durch Deutschland, * Europa, die * Welt fesselt ihn. Er flieht Vater und Stiefmutter 9) und brennt heimlich durch. Das vorgebliche Ziel der Weiterbildung legitimiert sein Unterwegs-sein: der ihn verabschiedende Ingenieur versteht es und auch gegenüber den Polizisten am Kölner Hauptbahnhof schützt er sich durch die Behauptung, sich „im Handwerk weiterbilden“ zu wollen. 10) Er sucht ungleich intensiver nach Arbeit als Pfarre, hat aber den gleichen Erfolg: nämlich keinen. Antrieb bleibt dennoch die Reiselust: „…ich, an keinen andern Menschen gebunden, frei wie ein Vogel, soll nicht durchkommen, nicht vorankommen? Das wäre gelacht! Ich … fühle niegeahnte Kräfte in mir.“ 11) Tatsächlich arbeitet er einige Monate in Solingen, doch in der einsetzenden Wirtschaftskrise 1922/1923 schließen viele Betriebe und er sitzt wieder auf der Straße. Ohne langes Zögern sucht er nach Arbeit: in Hamburg, in München, aber vergebens. Schnell entscheidet er sich für die Walz, denn das Geld ist alle und zu Fuß kostet das Reisen nichts. Selbst Verlockungen sind nicht imstande, seine Wanderjahre zu unterbrechen: „Längst bin ich auf dem Berg. Im Tal unten winkt das Mädel, hinter dem Bach schwenkt der Soldat sein Gewehr. Allzu gerne wäre ich in die Arme des blonden Dirndls geeilt, der Soldat und ich wären gute Freunde geworden, - doch vor mir liegt die Welt! - Das war der erste trübe Tag …“ 12) Später will ein Polizist von ihm wissen, warum er walzt: „Die alten Gesellen und unsere Meister erzählen uns oft von der Wanderschaft, und hat man dann seine Lehre beendet, ist man warm gemacht und will selbstverständlich auch tippeln. Und was heißt Stellenvermittlung? Gar nichts. Kommt man zu der Stelle hin, ist es meistens ein Krauter 13), der in der Stadt verrufen ist und keine heimischen Gesellen mehr bekommen kann. Das merkt man aber erst, wenn man bei ihm ist. Geld zum Zurückfahren hat man aber nicht mehr, dann wird eben getippelt.“ 14)
Schroeder berichtet von zweien seit zwei Jahren wandernden Zimmerern.
„`Noch ein Jahr´, sagt der mit dem steifen Hut, `dann geht´s nach Hause.´
`Dann sind unsere Fremdenjahre um`, ergänzt der andere.
`Werden euch denn drei Fremdenjahre vorgeschrieben?´
`Wir müssen sie nachweisen, und nicht nur Walzjahre, sondern drei volle Arbeitsjahre. Ohne diesen Nachweis können wir keine Meisterprüfung machen …´“ 15)
Winnig fühlt sich unreif: „Es war mein Kummer, daß ich so oft in die Weise der Kindheit zurückfiel und Erlebnisse ersann, wie ich sie mir wünschte, denn ich sagte mir, daß man dem Leben seinen ganzen Ernst schuldig ist.“ 16) Er weiß das und will auf der Walz an Reife gewinnen: „ein Gefühl, daß ich in den sechs Monaten meiner Wanderschaft doch nicht nur älter geworden sei, sondern ebenso irgendwie innerlich gewonnen hätte, gewonnen an Besitz und an Kräften, die mit Erfahrung und Reife wohl angedeutet, aber noch nicht erfaßt sind. Es war wohl ein Wachsen, und nun mußte ich, um weiter zu wachsen, weiter wandern und das Leben hinnehmen, wie es war und wie es zu mir kam …“ 17) Man kann lange wandern und dennoch kein Wanderer sein - nach einem Jahr auf der Landstraße stellt Winnig fest: „In Köln merkte ich zum erstenmal, wie wenig ich zum Leben unter fremden Menschen taugte. Bis zu dieser Zeit war es mir nie aufgegangen, daß ich auf allen Arbeitsstätten unter Fremden geblieben war … Später war mir mein Kamerad genug gewesen.“ Welch ein Unterschied zu Schroeder - der tippelte zwar nur ein knappes halbes Jahr, doch nahm er die Menschen viel intensiver wahr, fühlte sich überall zuhause! 18)
Winnig sinnierte über den Sinn des Wanderns und unterschied zwischen dem Sinn für sich selbst und dem Sinn für die Gesellschaft durch „den Austausch handwerklicher Erfahrungen, die Förderung im Beruf, das Kennenlernen fremder Länder und Leute. Diese Zwecke meinten wir und meinten, damit den Sinn der Wanderschaft getroffen zu haben, im Grunde aber wußten wir wohl, daß er woanders lag … Die Wanderschaft war vom Menschen her gesehen eine Probe seines Mutes und seines Selbstvertrauens. An jeden jungen Gesellen war mit der Wanderschaft die Frage gestellt, ob er den Mut hatte, auf den Rückhalt der Heimat zu verzichten, auf die Behütung und Sicherung im Elternhause, auf Rücksicht und Beistand, wie die heimatlichen Verbundenheiten sie gaben, und ohne jeden Rückhalt, ohne Behütung und ohne Schonung zu leben. Denn das hieß Fremde. Die Fremde war grundsätzlich nur Verneinung der Heimat. Wer in die Fremde ging …. mußte alles, was er an Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Wärme brauchte, neu erwerben. … und wurde er mit der Fremde fertig, so kam er mit Kräften zurück, die er vorher nicht gehabt hatte und die ihn nicht nur im Beruf über die Daheimgebliebenen hinaushoben. Es war der Sinn der Fremde, daß man sie annahm und verstand.“ 19)
Zettler sinniert: „Denn wie soll ein junger Mann Erfahrungen und Wissen sammeln, wenn er nicht seine Heimat verläßt und fremde Länder bereist? Wie soll er sich in seinem Berufe fortbilden, ohne die Meinung anderer Menschen gehört zu haben? … Bin ich vielleicht anders, als die sonstigen jungen Männer meines Alters? Sollte ich ein besonders starkes Fernweh haben?“ 20)
Hasemann erlebt eine geschützte, freie Kindheit, lebt ungezügelt. Zur Qual wird ihm allerdings die Schule mit dem damit verbundenen Zwang, den Strafen und dem Arbeiten im Internat, der Presse: „Hier war die Welt des Zwanges. … Es kann kein Mensch begreifen, wie schmerzlich der Verlust der Freiheit auf solche Waldkinder, wie wir es doch waren, wirkte. Gefangen, eingemauert.“ 21) Er flieht, die Flucht gelingt: „Ich wollte Maler werden oder Bildhauer oder irgend so etwas, ein Beruf mußte es sein, der keinen Zwang im Gefolge führte.“
Doch es bedarf mehr, einen Gesellen zur Wanderschaft zu bewegen: persönliche Motive geben den Ausschlag. Begleitet werden sie von einer Neigung zum Reisen, einem Hang irgendwo im Spektrum zwischen Leidenschaft und Lust, der mehr oder minder für den Trieb, unterwegs zu sein, verantwortlich ist. Bei Hasemann wird es gar zum Lebensprinzip: „Nur der erwirbt das Recht aufs Jenseits, der den Kampf mit der Gottheit ausgefochten, der den Handschuh der Unmöglichkeit lächelnd aufnimmt.“ 22)
Gemeinsam scheint den Handwerksburschen, daß sie sofort nach Abschluß ihrer Lehre in die Fremde ziehen, alle sind etwa 18 Jahre alt. Sie treffen diese Entscheidung bewußt, gehen freiwillig, doch während Heinrichs seine Reise von langer Hand plant, ergreifen die anderen eher die Gunst des Augenblicks. 23) Bei Heinrichs scheint das Reisen eher Trieb zu sein und von Leidenschaft bestimmt - bei den anderen ist es mehr Reiselust ohne festes Ziel, ohne Zeitvorgabe. Jeden treibt es in die Welt, doch bleibt dieser Antrieb persönlicher Natur, oft unbewußt. Nach außen begründet wird die Reise als „Walz“ und ist somit gesellschaftlich hinreichend legitimiert. Sie ist nützlich: der Geselle lernt neue Arbeitstechniken, vervollkommnet sich handwerklich, gewinnt an Weltkenntnis und Weltoffenheit und kommt als ein Mensch zurück, der reif ist, Meister zu werden und vielleicht selbständig. Unausgesprochen bleiben andere gesellschaftlich nützliche Effekte: der wandernde Geselle macht Platz für neue Lehrlinge, den Heranwachsenden wird ein Ventil geboten, sich in der Welt auszutoben, ihre Grenzen zu finden. Jeder entscheided selbst, wie lange er fortbleibt, wohin er geht, wie er die Zeit nutzt - bis zu sechs Jahren auf der Walz wurden akzeptiert.
Die Walz ist auch Prüfstein für die Persönlichkeit: Aussteiger bleiben auf der Strecke, werden Kunden und Vagabunden. Umgekehrt kommen auch die Ängstlichen nicht weit - wer keinen Sinn im Reisen findet, ist schnell wieder zu Hause. Wer sich entscheidet für den Einstieg in die Gesellschaft, wird seßhaft bleiben - er kennt die andere Seite zu genau. Die Enge des Alltags mit ihren festen Ordnungen und Werten und der Familie als kleinster Struktureinheit steht im Gegensatz zur Offenheit der Landstraße mit ihrer flexiblen Moral und der Kameradschaft als kleinster Zelle.
Für jeden bringt die Reise einen persönlichen Fortschritt, eine besondere Erkenntnis oder Erfahrung. Winnig gesteht: „Hinter meinem Entschluß hatte eine Hoffnung gestanden, die Hoffnung auf eine bedeutsame beglückende Wendung.“ 24) Er weiß selbst nicht, welche Wendung das dann nun sein soll. Er kann nur warten. Die Reise durch die Außenwelt ist eine Abkürzung für die innere Reise, ein Fortschritt im Mensch-sein. Pfarre bringt es die Erkenntnis, daß er zum Techniker geboren ist, er wechselt den Beruf. Bei Winnig ist es die Entscheidung für ein Schriftsteller-Dasein. Schroeder findet unterwegs seine neue Heimat und entscheidet sich für Solingen. Heinrichs findet die Erfüllung im Reisen, nur Krankheit zwingt ihn zum Abbruch. Zettler gründet eine eigene Firma. Hasemann findet eine Frau und seine berufliche Erfüllung im Holzschnitt.
Unsere Handwerksburschen sind alle Neulinge auf dem Reisesektor, bis auf Pfarre. Über die Ausrüstung wird nicht viel geredet, man beschränkt sich und nimmt, was man hat. Als Schroeder fluchtartig Trier verläßt, packt er Zahnbürste, Anzug, Selbstbinder 25) und Kragen in seinen Koffer 26) und vermißt schon bald Handtuch und Seife. 27) Über den Koffer schimpft er oft, irgendwann zerfällt er ihm buchstäblich in der Hand und er improvisiert - bindet die Hosenbeine seiner zweiten Hose unten ab und stopft alles hinein, was er hat. Das ganze bezeichnet er als Berliner 28) und ist äußerst zufrieden damit, spürt gar nicht, daß er etwas auf dem Rücken trägt; andere tragen ein Felleisen 29). 15 Monate, nachdem er Trier verlassen hat, filzt ihn die Polizei und wir erfahren, was er in seinen Taschen trägt: Gesellenbrief, Zeugnis, zwei Briefe, Paß, Geleitschein, Rasiermesser, Zahnbürste, Seife … Viel ist es nicht. Vor Lindau trifft er einen sächsischen Kunden, der Vorräte für den Winter unter seiner Jacke trägt: „An seinem Bauchriemen hängen aus kleinen Konservendosen zurecht geschusterte Blecheimerchen. In einem ist Fett, im anderen Butter, im dritten Schmalz; Öl verwahrt er in Flaschen. An einem Fleischerhaken, den er in der obersten Westentasche eingehakt, pendeln zwei Würste.“ 30)
Winnig gräbt auf dem Speicher den Ranzen seines Großvaters und dessen Eichenstock aus: „Die Zeit schrieb damals einen Schnürbeutel aus schwarzem Wachstuch mit schwarzgrünen Traggurten vor, welches Behältnis in der Sprache der reisenden Burschen Berliner hieß, und auf solchen Berliner war mein Sinn gerichtet, nur war dergleichen in unserer kleinen Stadt nicht zu beschaffen.“ 31) Bei seiner ersten Arbeitsstelle fällt er auf wegen seiner derben Wanderschuhe mit den breiten Nägeln und seiner Arbeitsjacke aus krausem Wollstoff, die den Regen abwies. 32)
Wie auch heute, ist die Ausrüstung ein Erkennungszeichen und ein Maßstab für den Grad der Vertrautheit: „Er mochte um einige Jahre älter sein als ich, doch das hielt mich nicht ab, denselben anzureden; trug er ja auch Ränzel und Knotenstock. Nicht lange währte es, und wir hatten Freundschaft geschlossen.“
Alfred Pfarre zieht los mit einer nagelneuen Ausrüstung: Lodenjoppe und Rucksack, Stock und Gamaschen 33), mit Hirschtalg werden die Stiefel wasserfest gemacht 34), eine Pelerine 35) dient als Regenschutz. 36)
Winnig trägt sein Handwerkszeug mit sich: Kelle, Hammer, Lotwaage. Dies dient als Kennzeichen der Wanderschaft, und auch Schroeder zeigt ab und an seinen Zollstock. Heinrichs hat Scheren und Kämme dabei, verkauft sie aber bald zur Finanzierung seiner Reise.
Winnig wandert im Winter nur mit Jacke und Hemd. Unterwäsche gibt es nicht, selbst ein Halstuch hat er nicht. „Heikel war die Versorgung mit sauberer Wäsche. Im Sommer wusch man das zweite Hemd in einem Bach, hängte es auf einen Busch zum Trocknen und legte sich daneben. Das war im Winter nicht möglich, und die Herbergen hatten noch keine Einrichtungen, in denen man die Wäsche vom Abend bis zum Morgen hätte waschen und trocknen können; dazu blieb dann nur der Sonntag … Wenn der Herbergswirt aber niemand hatte, der den Sonntag am Waschfaß mit Wanderburschenwäsche verbringen wollte, so mußte man sein Hemd solange tragen, bis es einmal besser paßte. In diesem Punkte waren die konfessionellen Herbergen, von den Wanderburschen Heiligkeit genannt, am besten eingerichtet; nach ihrem Vorbilde haben von 1900 an die Gewerkschaften ein eigenes Herbergswesen aufgebaut.“ 37)
Natürlich spielt das Geld, die Penunse 38) eine große Rolle. Keiner von den Gesellen zieht ohne Geld los, doch bei allen ist früher oder später der Geldbeutel leer. Dann gab es sehr verschiedene Strategien, sich Geld zu verschaffen. Am einfachsten machte es sich Alfred Pfarre: er fand keine Arbeit, mochte nicht betteln, also ließ er sich Geld von den Eltern schicken (in 8 Monaten 300 Mark), das allerdings nicht reichte. „Über zwei Wochen ohne Geld, zwei Wochen Kampf um Brot und Bett, zwei lange, lange Wochen. Am zweiten Tag begann die Sorge, am dritten schon die Not.“ 39) Und bald darauf: „Nun kamen zwei Wochen ohne Geld. Von trockenen Brotknüsten allein konnte ich nicht leben, ich brauchte Geld zum Schlafen, jeden Tag acht Soldi 40). Und auch an den Tagen wo der Brotknust fehlte, Geld zum Schlafen hatte ich auch da erhalten, wenn nicht um acht Uhr, dann um Mitternacht.“ 41)
Dann gab es kleine Hilfen von Kunden, beim Deutschen Hilfsverein (manchmal), bei Pfarrern, im Konsulat oder der Botschaft (selten). Kuckuck 42) und Kunde ist ein ergiebiges und für den Kunden unerfreuliches Thema, meint Pfarre. Nur selten hilft ihm das Konsulat. „…rasch entledigt sich der Konsul [des Wanderers], wenn er mit ihm zu tun bekommt; er paßt nicht in sein System.“ 43) Überbrückungsgeld wird gar nicht oder nur unter großen bürokratischen Hürden ausgezahlt, zu Weihnachten war es leichter, an Geld zu kommen. Als Pfarre um Einweisung in eine Krankenhaus bittet, wird er als Simulant abgetan. Andere Tage, Sammeltage, bestehen darin, zu warten: „Aber irgend etwas kam schon. Ein Seemann, der sich amüsieren wollte, den man dann nach Wunsch unterbrachte, einen landsmännischen Touristen, der echtes Münchner trinken wollte, ein anderer Fremder, der das Varieté suchte oder vielleicht auch eine Dirne, alle diese wurden von feinem Kundenspürsinn aufgestöbert, all denen half man Neapel kennen zu lernen und alle mußten blechen 44).“ 45) Pfarre sinniert, nachdem er lange das Büro des deutschen Hilfsvereins in Neapel gesucht hatte: „Was erreicht der Hilfsverein durch sein Verstecken? Doch nur, daß die Gerissenen ihn brauchen, die, für die er zwecklos ist. Diejenigen, denen sein Segen zugedacht ist, können nichts von ihm wissen.“ 46) Dort erhält er eine Schlafkarte für das städtische Asyl, Geld gibt es nicht. Ein anderes Mal gibt ihm die Questura, die Armenbehörde einen Gutschein für Abendessen, Übernachtung, Frühstück. Jeden Tag muß man wieder vorstellig werden, bis dem Beamten die Geduld reißt und er einen hinauswirft. Die Kunden fochten 47) jeden beliebigen Menschen an und besonders ergiebige Stellen wurden weitererzählt und „Winden“ genannt. Heinrichs benötigte mehrere hundert Mark für seine zweijährige Reise: Gespartes, Überweisungen von den Eltern, drei oder vier Arbeitsstellen, Unterstützungen durch die deutsche Hilfskasse bei den Konsulaten (120 Mark, die er beim deutschen Konsul in Alexandria erhielt, mußte er drei Jahre später zurückzahlen).
Winnig arbeitet in den neunziger Jahren und erhält einmal einen Wochenlohn von 11 Mark, was ihm wenig erscheint, er staunt aber über einen Wochenlohn von 60 Mark, das sei das gleiche, was sein Vater im Monat verdiene. Umgerechnet bedeutet das einen Stundenverdienst von 22 bis 45 Pfennige bei einer 48-Stunden-Woche. 48) Ein Kunde erzählt ihm, wie er sich drei Monate in Genua über Wasser gehalten hat: „Du darfst nicht warten, bis dir einer Arbeit gibt, du mußt einfach zufassen, wo du etwas siehst; wenn sie dich nicht wegjagen, bezahlen sie dich auch; das ist so Sitte.“ 49) Winnig verdient immer genug, um davon leben zu können, er kalkuliert eine Mark täglich für Unterkunft und Essen: Abendessen, Nachtlager und Morgenkaffee für siebzig Pfennig, Brot und Zukost, Obst und Wurst für täglich zwanzig Pfennige, ein viertel Liter Bier kostet sechs, ein Branntwein drei Pfennige. 50) Einmal gerät er in Bedrängnis: „Wenn wir jetzt keine Arbeit fanden, war das Unglück da. Geld hatten wir nicht mehr, und zum Reisen waren wir zu elend. Dann mußten wir betteln. Und beim Betteln würde man uns ertappen und festnehmen, und ich würde dann für mein ganzes Leben wegen Bettelns bestraft sein.“ 51) Betteln war verboten und die Polizei war scharf hinter den Kunden her. Doch es war selten, daß jemand walzte, ohne zu betteln.
25 Jahre später reist Schroeder mit 2500 Mark in der Tasche ab, die Übernachtung bei der Heilsarmee kostet 50 Mark, doch einige Wochen und Monate später ist das nichts mehr wert, Schroeders Wochenlohn beträgt mehrere Millionen Mark, die er in einer Aktentasche abtransportiert - die Weltwirtschaftskrise hat eingesetzt. Während im Januar 1919 ein Dollar acht Mark wert war, mußten im Februar 1923 bereits 40.000 Mark dafür gezahlt werden, im August war er bereits eine Million Mark wert, im November 4.200 Milliarden Mark. 52) Damit einher geht die Stillegung der Betriebe, Arbeitslosigkeit und das Leben von der Ruhrhilfe, einer Arbeitslosenunterstützung. Die Hilfsbereitschaft ist unterschiedlich von Ort zu Ort, Schroeder ist ganz platt, was ihm in Thüringen passiert: Da halten ihn in Pößneck und Zeitz auf der Straße Arbeiter an, fragen, ob er auf Walze sei, und drücken ihm jeder ein, zwei Geldscheine in die Hand. In Gera holt ihn ein Friseur von der Straße, schneidet ihm die Haare und schenkt ihm eine Zigarre. Solche Freigebigkeit ist selten: „Es ist eine unter Tippelbrüdern bekannte Tatsache: Je näher man an eine Großstadt kommt, um so geiziger werden die Leute.“ 53)
Geld ist nur Mittel zum Zweck, und der heißt meist „essen“, denn Proviant ist kanpp. Durch Flammer lernt Heinrichs erste Techniken des Sich-Ernährens kennen: „…ich hatte in Flammer 54) einen hervorragenden Fechtmeister gefunden. Doch nicht gefochten wurde mit Säbel oder Rapier, an irgendeinem verborgenen Ort, sondern unser Schlachtfeld war die Tür eines guten Landbewohners und unsere Waffen der Hut in der Hand, die ärmlichste, hungrigste Miene und das allbekannte Sprüchlein vom armen reisenden Handwerksburschen, der sechs Wochen keinen warmen Löffel mehr zum Munde geführt hat.“ 55) Diese Methode funktioniert so gut, daß Heinrichs und sein Gefährte oft dreimal täglich zu Mittag gegessen haben; ähnliches berichten andere Kunden. Wer Geld hatte, aß in der Herberge zur Heimat 56). Wer keines hatte, bekam ein, zwei Tage lang, je nach Gemeindeordnung, Gutscheine, die er dann in der Herberge zur Heimat einlösen konnte, aber die Qualität der Wandererfürsorge ließ zu wünschen übrig: „Denn abgesehen von sogenanntem Kaffee und trockenem Brot (»Hanf« oder »Lechum«) enthält die Wandererfürsorge-Speisekarte fast ausschließlich weiter nichts als immer und immer nur dünne, fettlose Suppen, gekochte Kartoffeln und minderwertige Wurst (»Unvernunft«).“ 57) Gab auch das nichts mehr her, so konnte man sich an die Klöster wenden, für die die Armenspeisung eine Pflicht war. Angenehm war das oft nicht: „Vor uns stand im Vorraum eine mächtige Schüssel mit Suppe. Fleischstücke und Brot schwammen darin. Sogar ein paar Fettaugen. … Die Kunden fraßen. Mit einer tierischen Gier beugten sie sich über die große Schüssel. Die Suppe lief vom Maule wieder zurück in die Schale. Die Kunden fraßen. Denn sie mußten noch in zwei anderen Klöstern fressen. Zwar konnten sie in einem satt werden, aber wie kann der Kunde dem anderen etwas schenken, etwas selbst nicht mitnehmen, das er bekommen kann. Der Kunde frißt, wenn er hungert. Der Kunde frißt, wenn er satt ist. Ich war hungrig, doch mich ekelte.“ 58)
Schroeder berichtet ähnliches: Er erhält in einem Dorf von einem Metzger eine Suppe vorgesetzt, nachdem er an dessen Türe betttelte: „Ein beißender Dunst reizt die Kehle, scharf und sauer … Aber der Geruch ekelt mich nicht, nein; die weißen, geringelten Madenwürmer sind es, die da herumschwimmen, wenn man den Brei rührt. … Ich dränge die Würmer an den Tellerrand und versuche einen Löffel Suppe hinunterzuschlucken. Der Rachen brennt. Der Gaumen zieht sich zusammen! Wir werfen unsere Stühle rückwärts, reißen die Ladentüre auf und laufen, was gibts du, was hast du. … Wir wagen nicht mehr zu betteln.“ 59) Das war dann wohl auch der Zweck der Übung. Im übrigen focht man um Brot und war stark von Jahreszeit und Gegend abhängig: Im Allgäu schwelgen die Kunden im Käse, am Bodensee in Äpfeln und Pflaumen. Den Hering nennen sie Schwimmling, Eiher heißen Beza, gewöhnliche Leberwurst wird zu Granit, das Verbandsbuch deutet die Schnapsflasche an. Pfarre ißt in Italien Polenta, Reissuppe und andere Köstlichkeiten.
Jeder Kunde hatte seine Kundschaft, einen Ausweis, mit Belegen aller Stationen des Wanderweges (1731 durch Reichsverordnung bestimmt). Handwerksburschen hatten ein Übernachtungsbuch zu führen, die Herbergsväter stempelten es ab. Bei Polizeikontrollen wurde es verlangt und wer keine Übernachtung unter einem Dach nachweisen konnte, erhielt Arrest oder wurde abgeschoben. Neben dem Verbot der Bettelei diente dies der Kontrolle und war ein Versuch, die Vagabunden von den Gesellen zu isolieren.
Die größten Ausgaben entstanden für die Unterkunft, die Penne 60). Schroeder findet sein Unterkommen einmal in Solingen bei der Heilsarmee, eine Goldmark kostet die Übernachtung, das ist teuer. Dreizehn Betten stehen im Raum, sind sauber bezogen, und ein Spind gehört dazu. 61) Später, auf der Walz und ohne Geld, erfährt er erst nach einigen Nächten im Freien (»Platte reißen«), daß jedes Dorf ihm eine Unterkunft geben muß. Beim Magistrat gibt's einen Gutschein, den er im Gasthaus einlösen kann. In anderen Dörfern wurde man einem Einwohner zugeteilt, der eine Nacht für einen zu sorgen hatte oder Unterstützungsvereine betrieben Heime.
Andere Übernachtungsstellen findet er bei Mutter Grün 62): mal im Wald, auch bei Schnee, im freien Feld, in einer Scheune, im Spritzenschuppen der Feuerwehr, in einer Kaserne, in einer Polizeizelle … Da die Handwerksburschen immer nur 24 Stunden an einem Ort bleiben dürfen, muß das Problem Unterkunft täglich neu gelöst werden - ein Ausruhen gibt es nur am Sonntag, und auch dann nicht immer. Wer kein Geld mehr hatte, konnte bei der Polizei in einer Arrestzelle übernachten, doch sogar dafür kassierten die noch einige Groschen. Dann, in der kalten Jahreszeit, war es geraten, krank zu werden, um recht lange in einem warmen Krankenhaus gut verpflegt zu werden. Schroeder gibt fünf Zigaretten, um mit dem Handrücken über den von der Krätze befallenen Handrücken eines Speckjägers 63) zu streichen, in der Hoffnung, sich ebenfalls zu infizieren. Die Methode gelingt: einige Dörfer weiter gibt es dann zum ersten Mal Geld für eine Fahrkarte zum nächsten Krankenhaus. Bevor man wirklich ins Krankenhaus geht, lassen sich noch einige Gemeinden schröpfen.
Winnig erzählt von einer Zunftherberge, die von den Innungen der Stadt subventioniert wurde, und lobt sie in höchsten Tönen: sie war sauber, das Essen gut, der Wirt höflich, jede Zunft hatte einen eigenen Tisch, über dem das Erkennungszeichen der Zunft hing und der Preis war außerordentlich niedrig. So etwas war selten genug. Außen zeigten vier Schilder, daß dies die Gewerkherberge der Maurer, Zimmerer, Schneider und Sattler sei, wer eintreten wollte, mußte dies entsprechend den Regeln tun: „Die Tür zur Herberge stand offen, aber das hielt mich nicht ab, nach Vorschrift zu klopfen, nämlich dreimal; nach dem ersten Schlag gehört sich eine kleine Pause, der dritte aber folgt schnell auf den zweiten.“ Nach dem Eintreten und als er den Wirt an seiner blauen Schürze erkennt, grüßt er: „Mit Gunst und Erlaubnis!“ 64) Das Herbergsleben ist reglementiert: „Der Wirt ging in seinen Verschlag, öffnete das Schiebefenster und nahm mir Stock und Ranzen ab, besah meine Papiere, legte sie in eine Lade und machte mich mit der Hausordnung bekannt. Um neun werde die Haustüre geschlossen, um zehn das Licht gelöscht, um sieben aufgestanden. Er sah mich noch einmal und genauer als zuvor an und meinte, ich sei wohl sauber …“ 65) Papiere und Ranzen werden dem Herbergsvater übergeben. Neben den Zimmern werden auch Tische und Bänke in der Gaststube zum Schlafen genutzt, im Notfall wird zusätzlich Stroh aufgeschüttet. Abends gibt es saures Schweinefleisch oder Gulasch, Bier und Branntwein, das Essen kostete nur 32 Pfennige. Morgens stand warmes Wasser bereit; sich ausgiebig zu waschen, war kein Problem.
Deutlich wird aber, daß solche Herbergen die Ausnahme waren. Roltsch erzählt: „Wohl traf ich auf meiner Wanderung ganz gute Obdachlosenasyle, wie in Berlin, Chemnitz und Nürnberg an (von Hamburg, Köln, Frankfurt/Main will ich lieber schweigen), wohl auch einige Herbergen zur Heimat, in denen man sich wirklich heimisch fühlen konnte, wie in Soest, Glauchau, Erlangen - aber im großen und ganzen erblickte ich, wohin ich schaute, Unsauberkeit und Unwirtlichkeit. Diese Pennen, wie besonders die sogenannten wilden … sind … die Verbreitungsherde aller möglichen ansteckenden Krankheiten und Seuchen.“ 66) Jeder Kunde, der dort übernachten will, wird abends abgebient (»entlaust«).
Eine wichtige Rolle spielen für Heinrichs die Unterkünfte des katholischen Gesellenvereins: „Erst auf meiner mühevollen Reise habe ich diese großartige Einrichtung kennen gelernt. … Wie oft kam es nicht vor, daß ich abends ermüdet, ermattet, durchnäßt, ja oft mittellos in einer fremden Stadt ankam. Zeigte mir dann mein „Wanderbüchlein“ die frohe Botschaft an, daß die Stadt der Sitz eines katholischen Gesellenvereins war, so wußte ich sofort, wohin ich meine Schritte zu lenken hatte.“ 67) Dort gab es dreimal täglich Essen und eine Übernachtung umsonst: „Doch das Zahlgeld brauchte nicht aus der Börse geholt zu werden, es bestand in einem einfachen Dank an den Hausmeister und in dem schlichten, aber schönen Abschiedsgruße: Gott segne das ehrbare Handwerk.“ 68) 69) Die Gesellenvereine findet er in Österreich und Ungarn bis nach Dunaföldvar an der serbischen Grenze, dann gibt es sie erst wieder in Rom und in der Schweiz. Für Protestanten wie Pfarre waren die katholischen Gesellenvereine geschlossen.
In Städten bleibt lediglich das Asyl. Nur wer weniger als eine Mark fünfzig hat (Pfarre), darf dort übernachten. Und Geld läßt sich nicht verbergen: Sämtlicher Besitz mitsamt Kleidung muß abgegeben werden, dann erhält man für eine Nacht Hemd, Hose, Jacke, Pantoffel, Topf, Löffel, Suppe und Brot. Morgens gibt es wieder Suppe, einen Gutschein für das Mittagessen kann man in der Herberge zur Heimat einlösen. In München darf Pfarre drei Nächte im Nachtasyl verbringen, dann drei Tage im Stadtasyl. Anschließend bleibt nur die Straße. In Berlin gibt es dann die „Palme“, das Städtische Obdachlosenasyl in der Fröbelstraße, in das jede Nacht tausende von Obdachlosen hineingepfercht wurden: ausziehen, duschen, trocknen, entlausen, anziehen, essen fassen … all das lief industriemäßig ab, unter der Aufsicht von Beamten. 70)
Vagabunden, Luden, Speckjäger und Fuselbrüder treffen sich hier, bringen ihr Essen mit, spielen Schach und kümmern sich um die täglichen Bedürfnisse: „Hier wird rasiert, werden Haare geschnitten, werden andern die Kleider am Leibe geflickt, es werden Selbstbinder verkauft, Schuhe gegen Herausgabe eines Stück Brotes vertauscht, man handelt mit Antiquitäten … und es scheint, als gehe das die ganze Nacht so durch.“ 71) Jede Nacht überprüft die Polizei drei Säle: Razzia! Jede Nacht werden drei andere Säle stichprobenartig geräumt und die Bewohner zum „Alex“ geschafft. Nachtasyle gab es nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien (Asilo notturno). 72) Außerdem fanden sich damals in Italien „Dormitori economici“. Pfarre beschreibt: „Dies war kein Obdachlosenasyl, sondern ein großes öffentliches Schlafhaus. Für zwei Soldi konnte man sich ein Bett mieten. Man wurde weder gebadet, noch durchgeräuchert … Zwar sah das Bett ganz reinlich aus, doch glaubte ich schon Wanzen und Läuse zu verspüren. … Es war noch früh und doch standen in dem langen Schlafsaal mit hunderten von Betten viele auf. Auch mein Nachbar. Ich fragte nach dem Grund. Er sagte, er sei Maurer und müsse um sieben Uhr schon weit draußen an der Arbeit sein. Ich erstaunte über den geringen Sinn der Italiener für ein eigenes Heim, für ein eigenes Zimmer. Selbst viele ordentliche Handwerker und Arbeiter haben keine Wohnung, sie essen auf der Straße, wohnen auf der Straße und schlafen in einer Anstalt.“ 73) Im öffentlichen Schlafhaus von Padua sind gar die ersten drei Nächte kostenlos. Auf dem Land ist es in Italien schwierig mit der Unterkunft. Wer da kein Geld hat, schläft im Freien, denn Fußreisende werden in Italien oft von vornherein verachtet. Hin und wieder macht man sich den Spaß, sie in die Irre zu schicken, ein anderes mal gibt man vor, nichts zu verstehen.
Doch auch in größeren Dörfern gibt es ein Asyl: „Das war ein elendes Gebäude, ohne Decke, ohne Zimmer, kahl im Innern bis zum Dachgiebel. Mit rohem Bretterverschlag brannte im Kamin ein qualmendes Feuer von nassem Reisig. … Man brachte uns Wasser aus alten Konservendosen zu trinken. Vorne, gegenüber dem Eingang, lagen auf niedrigem Gestell zwei schmutzige Strohsäcke, unsere Betten. Zwar waren die wanzenverdächtig, nackend, wie in solchem Falle üblich, konnte man auch nicht schlafen, der Frauen wegen … Dann lachten wir weidlich über die rostige Konservendose, die uns eine alte Frau sorglich unter das Bett gestellt hatte.“ 74) In Neapel gibt´s die berüchtigte Kundenpenne „Hotel Bengasi“.
Über die Schweiz weiß Hasemann nicht viel Gutes: „Schweiz, du magst nett sein, wenn man dich im Automobil befahren kann, ein Engländer ist oder eine Mätresse, die ihren alten Herrn zu neppen weiß. Aber für fahrendes Volk, für wandernde Studenten bist du eine Grube voll Qual. … In der Schweiz von Landstraßen zu reden, ist unmöglich, da gibt es nur Chausseen. … Auch ist es nicht möglich, in der Schweiz von Plattereißen, Herbergen, Scheunen, Lagerstatt u. dgl. zu reden! Es gibt in der Schweiz keine billigen Gasthäuser.“ 75)
Die Fußreise war ein Privileg der Unterschichten, ihr Verkehrsmittel war der Trittling 76); sie wurden geringgeschätzt 77); besonders schlechte Erfahrungen machte Pfarre in Italien, dort schlägt ihm oft Verachtung entgegen. Hin und wieder sind andere Beförderungsmittel nötig. So versucht sich Heinrichs, krank, zwei Stunden an der Gotthardstraße, kehrt erschöpft um und nimmt die Gotthardbahn: „Hier besteht nun die hochlöbliche Einrichtung, einem jeden Handwerksburschen, der von Italien kommt und nach Deutschland will, eine Freikarte für die Gotthardbahn zur Verfügung zu stellen. … Doch welch eintönige Fahrt! 15 Kilometer ohne auch nur die Felsen zu sehen, die einen umgeben …“ 78)
Ein alter Kunde erklärt Winnig in einer Bremerhavener Herberge, wie man nach Jerusalem gelangt: „In Genua mußt du zum Hafen gehen und ausmachen, ob ein Schiff nach Alexandria fährt. … Dann gehst du abends spät die Hafentreppe hinunter, springst leise ins Wasser und schwimmst nach dem Schiff. Du mußt dir das Schiff aber vorher angesehen haben und wissen, wo das Fallreep ist, denn am Fallreep mußt du in die Höhe klettern. Und oben mußt du dich verstecken. Dann mußt du warten, bis das Schiff auf hoher See ist. Das kann lange dauern, aber du mußt es aushalten, du darfst dich nicht eher blicken lassen. Wenn sie dich sehen, solange noch Land in der Nähe ist, geben sie ein Signal, und dann kommt ein Polizeiboot und holt dich weg. Wenn du aber aushältst, kommst du ohne Geld hinüber; sie geben dir ein paar Maulschellen, aber auch zu essen, und dann tust du, was sie dir sagen. Und du mußt willig sein und immer springen, wenn sie dich rufen oder schicken. Wenn du faul bist, setzen sie dich unterwegs an Land …“ 79)
Drei Monate hatte jener Kunde auf ein passendes Schiff gewartet. Hasemann geht direkter vor: „Eine Stunde vor Abfahrt an Bord, hatte mir mal ein Kunde gesagt, dann in den Kohlenkasten oder Segelkajüte, bestimmtes Auftreten; wenn dir der Kapitän begegnet, nach dem Koch fragen!“ 80) Winnig setzt sich im allgemeinen kleine Tagesziele, selten fünf Meilen oder mehr und veranschlagt dafür eine Mark für Unterkunft und Essen. Bei fünf Meilen und mehr rechnet er eine weitere Mahlzeit, dann wird es teurer. 81) Fast zwei Jahre ist er so unterwegs, von Norddeutschland zum Bodensee, also eher gemütlich. In der gleichen Zeit tippelt Heinrichs nach Jerusalem und zurück, 15.000 Kilometer in 455 Reisetagen, das macht einen Schnitt von mehr als 30 Kilometern pro Tag mit Spitzen von 60, 70 Kilometern und alles mit großem Gepäck (20-40 kg).
Interessant ist, daß gerade zu Beginn der Wanderschaft erst einmal ein schnelles Beförderungsmittel benutzt wird, z.B. der Zug. Vielleicht hat Schroeder das gemeint, als er sagte: „Wenn man auf Wanderschaft geht, muß man für sein ganzes Geld eine Fahrkarte kaufen und losfahren, dann kann man nicht mehr zurück, und ob man will oder nicht, man muß sich durchschlagen.“ 82) Zettler verdient gut und kann sich die Reise im Zwischendeck nach Amerika leisten. Wie jeder Reisende muß er sich sein Mobiliar selbst besorgen: „ein Strohsack, ein Seegraskopfkissen, zwei wollene Decken, Eß-, Wasch- und Trinkgeschirr und noch einige Kleinigkeiten.“ 83) Die Unterbringung ist spartanisch, 24 Personen befinden sich in jeder Kajüte, in vier Reihen zu je sechs Schlafplätzen.
Gern zogen die Handwerksburschen im 19. Jahrhundert nach Frankreich, Italien, Österreich. Es gab dort weniger Grenzen als in den Fürstentümern Deutschlands. „Diese ewigen Grenzen im Deutschen Reich sind wahrhaft vom Teufel erfunden. Das unaufhörliche Passieren von Schlagbäumen, und das Durchschnüffeln des Wanderbuches von Constablern und Stadtsoldaten aller Art ist mit viel Verdruß verbunden und lästig genug für einen ordentlichen Gesellen, der nichts will, als sich in der Welt umsehen und sein Metier tüchtig erlernen.“ 84)
Ab 1839 reisten die Gesellen auch vermehrt in den nahen Osten. 85) Dabei stand sicher nicht die handwerkliche Fortbildung in Palästina im Vordergrund, eher Abenteuerlust. Das Motiv der Pilgerschaft und der Glaube, auf der Wanderschaft durch Gott beschützt zu sein, verbanden sich mit der Idee der Walz. Später baute sogar das preußische Konsulat in Jerusalem eine eigene Gesellenherberge. Etwa 25 protestantische Gesellen suchten Jerusalem jährlich auf.
Die Mehrzahl der Wanderer jedoch blieb in Deutschland, denn man brauchte einen Paß, um die Grenze (offiziell) zu passieren. „Alte Kunden hielten sich an einen bestimmten Landstrich, in dem sie mit Art und Brauch der Bewohner vertraut waren, die Wege und die Herbergen, die guten und die schlechten Orte, die Gendarmen und die Gefängnisse kannten. Diesen Landstrich, der selten über die Grenzen einer Provinz hinausgriff, verließen sie nicht oder nur notgedrungen, etwa wenn ihnen eine hohe Bettelstrafe drohte. Weder junge Wanderburschen noch alte Kunden wichen dem Wetter aus, sie kürzten die täglichen Wege, aber sie zogen morgens ab. Der Krankheit gaben wohl junge Burschen nach, aber nicht die alten Reisläufer 86) der Landstraße, ich habe nie gehört, daß einer in der Herberge krank zurückgeblieben oder ins Krankenhaus geschafft worden sei; sie wanderten auch dann, wenn sie den Tod in den Knochen fühlten, und suchten sich lieber draußen einen geschützten Winkel zum Sterben, als daß sie sich in Menschenhände gegeben hätten.“ 87) Winnig schreibt diese Gedanken angesichts eines eisigen Winters nieder, in dem er draußen auf der Landstraße selber viel gefroren hat und zudem einen toten Kunden im Schutz einer Feldscheune fand.
Da das fahrende Volk auch weit hinter den Grenzen oft kontrolliert wurde, fiel man früher oder später auf, wenn man ohne Paß im Ausland war. Heinrichs schildert einen solchen Fall: „Kaum eine Stunde waren wir von Deutschlands Grenzen entfernt. … Plötzlich standen … zwei dieser gefürchteten Beamten vor uns. Wieder hieß es kurz: `Papier vorzeigen.´ Wiederum konnte ich ungefährdet weiterziehen, aber mein treuer Kamerad? [Ihm] wurde der Schub prophezeit, das heißt, er würde vom nächsten Orte per Bahn zur Grenze befördert werden.“ 88)
Schroeder trifft häufig Kunden, an bestimmten Orten tummeln sie sich, beispielsweise in Lindau. Ihre Reiseziele sind Hamburg, Pommern, Wien. Weit- und Fernreisende waren damals die Ausnahme, doch es gab sie. Er trifft zwei, die durch den Balkan in die Türkei wollen: „Diese Tour hatten sie mir so verlockend geschildert, und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre ich mit ihnen getigert. Doch solange ich Deutschland nicht kenne, nicht ganz angesehen habe, weiß ich nicht, was ich in anderen Ländern suchen soll.“ 89) Dann trifft er einen alten Speckjäger, der seit 34 Jahren, also seit 1889, auf der Landstraße ist: „Er kennt Indien, war fünf Jahre in der französischen Fremdenlegion, machte als Tramp siebenmal von Newyork nach San Francisco, einmal die große Büffelstraße, und hat nachher von der Landstraße einfach nicht mehr weggekonnt, sie hat ihn festgehalten.“ 90)
Winnig trifft in Bremerhaven einen alten Kunden, der ihm von seinen Reisen durch Dänemark, Holland, Frankreich, Schweiz, Österreich, Rußland und über Ägypten und Palästina berichtet. Seit 40 Jahren war dieser Kunde unterwegs. 91)In Istanbul stößt Heinrichs auf ein deutsches Gasthaus, die „Räuberhöhle“. Er betritt es und findet sechs Deutsche: „Eine kurze Zeit saß ich erst in ihrer Mitte, als ich schon erfahren hatte, daß es fünf echte deutsche Landstreicher waren, die ich vor mir hatte, und die schon jahrelang in Konstantinopel ihr Leben fristeten, ohne zu arbeiten. Sie wurden mir alle der Reihe nach vorgestellt …. Pulvermacher 92), Fleppenpanscher 93), Hochstabler 94) und Dolmetscher. Der Dolmetscher hatte seinen Namen nicht umsonst, derselbe beherrschte fünf verschiedene Sprachen und lebte hier in Istanbul als Vagabund. 95) Ich ….. wollte mich gerade aus dem Staube machen, als noch ein sechster dazu kam, der mir feierlich als „Wüstenkönig“ vorgestellt wurde. Wie mir nun noch mitgeteilt wurde, daß dieser Mann seinen Namen deshalb trüge, weil er zu Fuß die Wüste durchquert hatte, um nach Palästina zu gelangen, da hatte ich meinen Mann gefunden.“
Tippelnde Deutsche waren bereits in den zwanziger Jahren keine Seltenheit mehr auf dem Weg nach Indien. Faber wendet sich in Istanbul auskunftssuchend an einen Bahnbeamten: „Er verstand nur Türkisch und ging achselzuckend weiter, ohne mich nur eines Blickes zu würdigen. Und so taten es alle anderen. Ein rucksackbewehrter Franke - das war schon längst nichts Neues mehr und an so etwas ließ sich nichts verdienen.“ 96) Und als er 1926 in Indien das Schiff verläßt, verblüfft ihn der Offizier der Hafenpolizei damit, daß er ihn auf einen Blick und ohne ein Wort von ihm zu hören als Deutschen erkennt: „Das weiß man“, meinte er, „… Seit einem Jahr kontrolliere ich hier die einkommenden Schiffe und immer ab und zu kommt einer mit einem Rucksack, und immer ist er ein Deutscher, wenn sie sich bisweilen auch für Araber und alles mögliche ausgeben. Vor sechs Wochen kam einer - ein Maler namens Müller - von Konstantinopel über Bagdad und direkt ins Spital von Karachi, wo er neulich gestorben ist. So geht es den meisten, und Ihnen könnte es auch so ergehen. Sie sehen so aus.“ 97) Und einige Monate früher erzählte ihm ein (deutscher!) Grenzsoldat in persischem Dienst, daß er nicht der erste deutsche Rucksackreisende sei: „Immer von Zeit zu Zeit kommt so einer über die Grenze. Sogar die Perser auf der Wache haben von ihnen schon Deutsch gelernt.“ 98) Das bekommt er immer wieder bestätigt: „Da sei kaum eine Woche vergangen, in der nicht eine mehr oder minder große Schar von armen Reisenden über die Grenze gekommen wäre. Fast immer seien es Deutsche gewesen, und mancher sonderbare Kauz fand sich darunter. … Ein Pärchen deutscher Wandervögel, wie man sie zu Tausenden in unseren Wäldern sehen kann. Er, ein Bursch von etwa achtzehn oder neunzehn Jahren in vorschriftsmäßiger Kluft, sie ein gretchenhaftes Ding mit kurzem Rock und langem Zopf. … Aber sie sind nie um die Welt gekommen. … Gretel geriet auf die schiefe Ebene und wurde auf Kosten des Konsulats [in Teheran] wieder abgeschoben nach Deutschland. Hans erkrankte an Typhus und lag wochenlang zwischen Tod und Leben im amerikanischen Spital. Dort paßte ihm die ganze Richtung nicht, und eines Tages machte er sich, noch auf Krücken humpelnd, davon in Richtung nach Indien. Man hat nie wieder etwas von ihm gehört.“ 99)
Pfarre zitiert den Baedeker, den Gsell Fels 100), den Werl, den Grieben und kritisiert diese häufig. Gerade die für ihn nutzvollen Adressen und Hinweise fänden sich darin nicht: die billige Volksküche in Florenz vermißt er ebenso wie die Adresse eines Dormitoris oder eines Asyls. 101) Mit der Nutzung solcher Reiseführer scheint er die Ausnahme zu sein, Grund dafür ist eher sein Interesse an Kunst und Kultur. Heinrichs findet in seinem „Wanderbüchlein“ die Adressen der katholischen Gesellenvereine.
Die wichtigsten Informationen gibt es auf der Straße, in den Asylen und sonstigen Treffpunkten der Kunden. Auch die einzelnen Berufsgruppen haben ihre Anlaufstellen, so gibt es in Rom einen deutschen Künstlerverein 102)) 103), die katholischen Gesellenvereine u.a.m. Schroeder weiß zu berichten: „Oft begegnen uns andere Handwerksburschen. Wir fragen nach dem Woher und Wohin. Dann erzählen sie von selbst, was sie wissen, nennen uns Dörfer, wo man gut essen kann, warnen uns vor geizigen Bauern, scharfen Gendarmen und gefährlichen Strecken. Mit „Servus!“ geht es dann wieder weiter.“ 104) „Alle Speckjäger gleichen sich, alle sind bedächtig in ihren Bewegungen, und nur dort, wo es etwas zu hapern gibt, handeln sie schnell und sind durch nichts aufzuhalten. Sie alle haben ein zehntausend Kilometer langes Landstraßennetz im Kopf, kennen jeden Grünen, jeden Baum ihres Landes, wissen von dem Ungeziefer aller Pennen und Polizeipritschen und wissen auch fette Gegenden, wo man nur von einem Haus ins andere hineinzulaufen braucht. Für jede Jahreszeit haben sie eine bestimmte Gegend.“ 105)
Pfarre will auf seiner Wanderung nach Italien Italienisch lernen und schimpft über seinen Sprachführer: „Dienstmann, kommen Sie her!, Kutscher, nach dem Grand-Hotel!, Darf ich um die Speisekarte bitten?, Ich ziehe ein Dutzend Austern vor! …. Wie aber heißt: Armer Reisender bittet um eine kleine Gabe?“
Nur Winnig reist mit einer Landkarte, alle anderen gehen der Nase nach, orientieren sich an der Himmelsrichtung, ja können oft nicht einmal * Landkarten lesen. Das führt zu Umwegen, die allerdings nur von Winnig als solche betrachtet werden, und dazu, daß man schon mal abends kein Dorf zum Übernachten findet.
Ein Wunder ist es nicht, auf andere Reisende zu treffen. 1924 haben angeblich 700.000 Reisende Italien besucht, darunter 69.000 Deutsche. Um 1900 sind in Rom etwa 1.000 Deutsche ansässig, weitere 2.000 halten sich dort zu Studienzwecken auf, mehrere tausend besuchen die Stadt als Touristen oder Pilger. 106)
Alfred Pfarre ist es ein besonderes Bedürfnis, in Gesellschaft zu sein und kaum einmal reist er alleine. Auch in Italien trifft er immer wieder auf Gesellen, Kunden, Vagabunden. In Venedig den Luxemburger Journalisten Matthias Kientgen und einen badischen Gymnasiasten namens Wilhelm, einen dänischer Gärtner, einen deutschen Maler, dessen Freundin Helene Weil, den Sibirier, den Kanadier, den Russen, den großen Josef, den Heiland, einen Kundenphilosophen. In Rom findet er eine große Anzahl Kunden, die es sich dort heimisch gemacht haben, teilweise wohnen sie in den Katakomben, nicht so viele Kunden treiben sich in Neapel herum. Nur einmal trifft er in den vielen Monaten einen französischen Kunden, andere Nationalitäten sind etwas häufiger vertreten, doch die meisten sind Deutsche, sie sind oft „…eine ganze Gruppe Heimatloser …, Kunden, versumpfte Künstler, abgemusterte und weggelaufene Seeleute aus aller Herren Länder … einen alten Speckjäger … den kleinen buckligen Michael.“
Der Kontakt zu anderen war so ausgeprägt, wie man es wünschte. Im Gegensatz zu Schroeder, der fast nie allein war und Gruppen bevorzugte, floh Winnig die Gesellschaft der Handwerksburschen und Kunden: „Ein halber Tag in Gesellschaft gewandert war eine willkommene Abwechslung, aber danach nahm ich mir wieder meine Freiheit, die Freiheit des Wanderns und Rastens und die Freiheit der Gedanken.“ 107) Interessant ist eine hingeworfene Bemerkung Winnigs, als ihm in der Rüdesheimer Herberge ein Fremder auffällt: „…er war zwar wandermäßig angezogen, aber in der Art vornehmer Leute … daß ich ihn für einen Touristen hielt, der hier die Gelegenheit zu sozialen Studien wahrnahm, wozu sich manche Leute damals bewogen fühlten, nachdem Pastor Göhre drei Monate Fabrikarbeiter gewesen war und ein Buch darüber geschrieben hatte.“ 108)
Gemeinsam wurde die Zeit kürzer, man konnte sich unterhalten, hatte jemanden, dem man *vertrauen konnte, ein Stück Heimat in der Fremde. Heinrichs und Pfarre finden richtige Freunde auf der Landstraße, Menschen, die ihnen viel bedeuten und von denen sie sich nur schwer trennen; Winnig dagegen fühlte sich nahezu immer unter Fremden. Kam eine Gruppe von mehreren Kunden in einen Ort, so teilte man ein, wer in welchem Haus zu fechten hatte. Hinter dem Dorf wurde zusammengeworfen und gerecht geteilt. Schroeder wird einmal unterwegs sehr krank und ohne die Kunden, die er eben erst getroffen hatte, wäre er am Wegesrand liegengeblieben: „Jetzt weiß ich, was Kameradschaft ist. Wohl steht man dem Bruder näher, man tut etwas für ihn, weil er zur Familie gehört, man hintergeht ihn auch nicht, was man vielleicht bei einem fremden Menschen tun würde … Beim Kameraden aber kommen solche Gedanken noch nicht einmal auf. Wahre Kameradschaft zerschmettert die Hölle!“ 109)
„Die wandernden Schleifer hatten damals einen Brauch, den sie als Geheimnis behandelten: alle Jahre um Johannis trafen sie sich irgendwo und hielten drei Tage lang ein Lager mit Zecherei und Schmauserei. dann standen ihre Wagen, fast dreißig an der Zahl, in der Dickung, und die Schleifer lagen abseits im Grase …“ 110)
Pfarre geht mit Hamburger Wandervogel-Freunden auf eine vierwöchige Ferienfahrt durch die Rhön und den Thüringer Wald, dann sagt er sich: „Ihr habt eine Ferienfahrt gemacht als sorglose Wandervögel, nun kommt deine Reise als Handwerksbursche, vielleicht bald als Landstreicher. … Beginne nun endlich deine Fahrt und wage mutig den bedeutsamen Schritt vom Wandervogel zum Handwerksburschen.“ Er unterscheidet drei Arten zu reisen und hebt den Mut als bedeutsames Element der Walz hervor. Bereits klar im Blick ist der drohende Abstieg zum Vagabunden. Die Polizei ist scharf hinter den Handwerksburschen her und kontrollieren peinlich genau, wer die Grenze zum Vagabunden überschreitet: „Auf eine Fleppenkontrolle darf ich es nicht ankommen lassen, sonst bin ich verratzt 111), denn ich habe bereits zwei Nächte auf eigene Faust, ohne Aufenthaltsstempel, im Heu geschlafen.“ 112)
Aufenthaltsstempel in Herbergen, Asylen, Arbeitsnachweise oder der Stempel: „Inhaber hat sich heute vergeblich um Arbeit bemüht“ 113) helfen der Polizei, Gesellen von Vagabunden zu unterscheiden. Rein äußerlich gleichen sich Gesellen, Vagabunden, Wanderarbeiter: sie sind arm, zu Fuß unterwegs und bemühen sich Tag für Tag um Essen und ein Bett. Sie haben Zeit, kein Geld, selten Arbeit und übertreten alle das Verbot der Bettelei. Immer wieder wird die Walz verteidigt als: „jene einfache und bescheidene Art, die Welt zu beschuen, welche weder in den ersten Cafes und Hotels der Residenz, noch in die verkommensten Schnapskneipen der Provinzstädtchen, sondern in die Werkstätten berühmter und geachteter Meister führt, nicht um den Prahlhans mit des Vaters Talern, noch den Schnapsbruder mit den erbettelten Pfennigen, sondern den soliden Sohn schlichter bürgerlicher Eltern zu spielen, der, seine Kenntnisse erweiternd und sich ausbildend, mit dem Zeitgeist heute vorwärts schreitet, wie sein Vater vor einem Mannesalter, mit dem Geiste jener Zeit vorwärts schreitend, sich zum wackren Geschäftsmann herangebildet hat.“ 114)
Winnig schafft es tatsächlich, sich zwei Jahre als Geselle über Wasser zu halten und findet Arbeit. Als er reist (um 1897) gibt es in Deutschland gerade einen Aufschwung, Arbeit ist leicht zu bekommen, das Ruhrgebiet boomt: „Nach 1896 ging es dann aber aufwärts - so schnell, daß 1912 ein angesehener Publizist ernsthaft behauptete, allein jenes Wirtschaftswunder rechtfertige schon den deutschen Anspruch auf eine Vormachtstellung in der Welt.“ 115)
Winnig ist Handwerker, sucht aber seine Identität stärker im Dichterdasein. Als er einmal einen Aristokraten kennenlernt, idealisiert er ihn, nimmt selber Züge eines abgehobenen Verhaltens an. Die Sprache der Kunden lehnt er ab, preist das ruhige, bürgerliche Benehmen. Und als er Hannover verläßt, stellt er fest: „Es hat uns nicht gefallen, den langen Weg zur Stadt hinaus zu gehen; der Wanderbursche paßte schon damals nicht mehr in das Straßenbild der großen Städte.“ 116) Und das, obwohl es in Hannover 500 Baustellen gab? Immer wieder betont er, daß er nur notgedrungen mit Kunden zusammengehe, ihre Gesellschaft schätzt er nicht. Nach über einem Jahr auf der Landstraße zieht er tatsächlich mit drei Kunden los und übt gemeinsam mit ihnen in einem Dorf das Fechten. Dabei bleibt es dann auch. Er studiert und beobachtet das fahrende Volk, aber mit dem Herzen ist er nicht dabei.
Pfarre und Schroeder dagegen finden kaum Arbeit und merken schnell, wie leicht man ins Vagabundenmilieu abrutschen kann: „Und es ist so leicht, auf die Landstraße zu gehen. Man tritt aus seiner Wohnung und wandert. Aber wie kommt man von der Landstraße wieder ab? wenn man keine Arbeit findet, wenn man kein Zuhause mehr hat? Die Eltern haben, sind glücklich; die keine haben, abgebrannt sind und sich in keiner Stadt festsetzen können, - die werden Speckjäger. … Jeder hier hat etwas Rauhes und Hartes an sich, doch keinem ist der Grimm angeboren; alles ist aufgelegt, aufgesetzt, von der Landstraße, von dem Elend, das sie umgibt.“ 117) Pfarre wird in Nürnberg gewarnt: „Hüte Dich vor der Landstraße, Du gehst sicher kaputt!“ Ich erwiderte, daß mir die Gefährlichkeit der Landstraße übertrieben schien, ich sei doch schon einige Wochen getippelt. „Ja“, sagte der Maler, „bis jetzt mit Geld, und nun ohne.“ 118)
Auch für ungelernte Saisonarbeiter ist nur geringer Bedarf und die wenigen guten Stellen sind schnell fort. Obwohl das Arbeitsamt voller Arbeitssuchender ist, meldet sich niemand auf die ausgeschriebenen Stellen als Hopfenzupfer - das ist einfach zu schrecklich! Arbeit und Geld waren knapp und wurden immer knapper. Die Mechanisierung und Industrialisierung im 19. Jahrhundert führte zu Arbeitsverlust. Handwerksburschen durchstreifen mit Saisonarbeitern, Stellungslosen und Landstreichern das Land oder gehen ins Ausland. In der Schweiz entstanden Handwerkervereine als Vorform der Arbeitervereine. Revolutionäre Ideen entstanden, die Polizei war mißtrauisch. Wandern wurde zum gesellschaftlich kritischen Faktor.
Daß für die Gesellschaft Wandern nicht gleich Wandern ist, erkennt Hasemann schnell: „Ist es doch Modesache jetzt, die Wandervögelei. Man hilft ihnen, obgleich sie nur bis Fürstenwalde laufen mit vielerlei Kochtöpfen, man macht große Sachen, bildet Vereine - Geschmackssache - unterstützt wo immer möglich diese gedankenlose Modekrankheit, die ein gesunder Deutscher belächeln muß, aber niemand kümmert sich um die, die über die Grenzen unseres Vaterlandes hinauswallen, einen Rock und einen Gott und keine reichen Eltern haben, und nach alter deutscher Sitte auf die Wanderschaft gehen, sich wirklich die Welt anschauen unter Mühen und Strapazen, denen man kein Obdach bietet.“ 119) Die wahren Kunden beschreibt er so: „Über die ganze Erde ist ein Kundennetz gebreitet, Deutsche sind es, die seit alters her die Landstraße ihr eigen nennen. Als junge Burschen zogen sie aus einmal, und nun sind sie grauköpfige Männer geworden, immer sind sie gegangen, nie haben sie gerastet, und sie sterben einmal in irgendeiner Ecke, an irgendeiner Landstraße der Welt, vielleicht hinter irgendeiner Hecke. Manche haben schon seit Menschengedenken eine Tour, Hamburg-Jerusalem oder Rom-Wien-Berlin-Paris. Mancher hat ewig die gleiche Tabakspfeife, nur ist sie schon ganz kurz geworden, er geht Amsterdam-Athen.“ 120)
Die Beziehung zu Frauen kommt bei allen Walzbrüdern zur Sprache, alle erleben sie ihre Romanzen. Dabei handelt es sich aber ausschließlich um Beziehungen zu Frauen aus der bürgerlichen Gesellschaft: Pfarre lernt ein Mädchen bei der Arbeit im Weinberg kennen; Winnig befreundet sich mit Helene Paulsen nach der Teilnahme an einer Volksversammlung über „Kapitalistische Profitwirtschaft“, flirtet mit einer Verkäuferin und einer Gastwirtin; Schroeder findet sich beim Fechten in einer Runde von neun Mädchen auf einem Bauernhof wieder. Die bringen ihn so in Verlegenheit, daß er nach nach wenigen Minuten das Weite sucht.
Bei allen zeigt sich das Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit, jedoch beschränkt sich dies (den Erzählungen zufolge) auf Händchenhalten, Turteln und Küßchen. Nur Heinrichs scheint die Frauen nicht zu vermissen. Bloß eine Nonne, die ihn gesundpflegte, machte Eindruck auf ihn. Bei Hasemann spielen Frauen eine zentrale Rolle, doch sind es immer um Frauen aus der normalen, der besseren, der bürgerlichen Gesellschaft. Er ist ein „Frauentyp“, nach eigener Aussage, und die Musik liefert ihm genügend Möglichkeiten, Frauen kennenzulernen. Er geht gezielt vor und hat in jeder Stadt seine Amouren. Keine dieser Begegnungen findet mit einer Frau von der Straße statt. Allerdings ist er der einzige in dieser Reihe, der sich folgenreich verliebt und am Ende seiner Reise zu dieser Frau zurückkehrt.
Frauen waren nur selten unterwegs. Pfarre erwähnt eine Helene Weil, die als Kalle 121) einen Malerkunden begleitet. Der Maler hatte sie in der Breslauer Herberge zur Heimat kennengelernt, als sie dort bediente, und von dort zogen sie gemeinsam durch Frankreich, Spanien und Italien. Ein anderer Kunde sagt dazu: „Er liebt sie wahrhaft, aber sie ginge am liebsten als Dirne. Diese Liebe des Malers ist gegen alle Kundenvernunft, doch ein Kunde ist er, wenn auch mit einer noch gewissen Moral.“ 122)
Auch Schroeder und Winnig erwähnen hier und da eine Tippelschwester oder -schickse 123), jedoch beiläufig, oft moralisierend, als gehörten Frauen selbst nach den Moralvorstellungen der Kunden nicht auf die Straße: „`Willst du mit´? Sie nickt, zeigt saubere Zähne, guckt noch einmal zurück und geht zwischen uns beiden her. Ich will sie auf die Probe stellen, ob sie ein ehrbares Mädchen ist, und … küsse sie auf den Mund.“ 124) Was es mit dem Mädchen auf sich hat, ist leider nicht zu erfahren, denn wenige Minuten später wird sie von zwei Polizisten mitgenommen.
Faber hört im Iran von einem „Pärchen deutscher Wandervögel, wie man sie zu Tausenden in unseren Wäldern sehen kann. Er, ein Bursch von etwa achtzehn oder neunzehn Jahren in vorschriftsmäßiger Kluft, sie ein gretchenhaftes Ding mit kurzem Rock und langem Zopf. … Aber sie sind nie um die Welt gekommen. … Gretel geriet auf die schiefe Ebene und wurde auf Kosten des Konsulats [in Teheran] wieder abgeschoben nach Deutschland.“ 125)
Das Wort „Schickse“, ursprünglich die jiddische Bezeichnung für ein nichtjüdisches Mädchen, wurde im Laufe der Zeit immer negativer besetzt und zuletzt als Bezeichnung einer Prostituierten verwendet. Darf man daraus schließen, daß eine Frau, die auf der Landstraße unterwegs war, sich meist auch prostituierte? Die Kunden differenzierten stärker:
„[Dirnen] sind keine Prostituierten, … die sich verkaufen und ihren Körper zum Gegenstand eines Gewerbes machen. Die Dirne … verkauft sich nicht, sie verschenkt sich.“ 126) In nahezu allen Quellen über Vagabunden wird die Dirne als Teil des fahrenden Volkes genannt. Aus Italien berichtet Pfarre: „…eine Dreisoldidirne, die ihr Geld in den leeren Güterwagen verdient …. Die hat ein Körbchen mit drei, vier Apfelsinen, und wenn ein Schiff einläuft, dann läßt sie sich hinüberrudern, um Apfelsinen zu verkaufen. Nach zwei, drei Stunden kommt sie wieder. Sie war beim Kapitän, beim Steuermann, bei den Matrosen und oft auch bei den Schiffsjungen. Wenn sie zurückkehrt, hat sie noch ihre drei oder vier Apfelsinen im Korb.“ 127) Hasemann nennt die Tippelschickse die „größte Seltenheit des Weges“. 128)
Da gibt es für die überwiegend männlichen Kunden nur wenig Möglichkeiten, dem Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Sex Befriedigung zu verschaffen. Nur aus diesem Grund melden sich manche auf die unbeliebten Stellen als Hopfenzupfer. Pfarre erfährt: „…wer nicht ganz weibstoll ist, hält das nicht aus. Für eine Reichsmark zwanzig von morgens fünf bis abends elf bei der flauen Brotsuppe tät´s keiner, wenn nicht das Nachtlager so schön wär. … Mann und Weib, Kunde und Schickse, alles schläft bunt durcheinander in einer Scheune auf Heu und Stroh, so wie jeder will. Die paar Kinder, die dazwischen liegen, stören nicht. … Aber auf Dauer wird´s zu ekelhaft.“ 129)
Ein anderer Vagabund weiß einiges zum Thema Frau: „Aber etwas anderes läuft [den Kunden] lange nach. Hängt lange an ihnen und reibt sie auf. Gräbt tiefe Falten in ihre Gesichter, drückt ihnen den Kopf nach vorn und beugt ihnen den Rücken. das ist das Weib. … es war allen eine Not. … Sie verleugneten es. Einige hielten es nicht aus. Sie vergewaltigten, was ihnen die Not in die Arme trieb, alte Frauen, Kinder. Doch das sind die allerwenigsten. … Andere nahmen Arbeit an. Auf einem Gut oder so - um ein Weib zu bekommen. … Dann kämpfen sie an gegen die Forderung ihrer Natur. … Sie unterliegen. Und sie möchten sich die Hand abschlagen. Öfter. Wie als Knabe. … Das sind die Einsamen. Andere sind den gleichen Weg gegangen mit mehr Glück. Sie finden immer wieder mal einen Freund. Einen Jüngeren. Sie wissen, daß keiner um diese Not herumkommt.“ 130)
Der Begriff „schwul“ ist in der Kundensprache seit 1847 schriftlich nachgewiesen und Pfarre berichtet von Kunden, die auf der „schwulen Schiebung“ sind, sich als Strichjunge ihr Geld verdienen. Als einziger der Walzbrüder berichtet er von häufigen Begegnungen mit Homosexualität: mal platzt er in eine Toilette und weicht erschrocken zurück 131), mal muß er sich selber den Nachstellungen reicher Italiener widersetzen 132), dann wird er von einem anderen Kunden vor dem Übernachten in den römischen Katakomben gewarnt: „Weißt Du, was die Kunden hier einhaken nennen? Sieh, Du mit Deinem Kindergesicht wirst schon schamrot, ich merk, Du kennst den Ausdruck auch schon. Also deshalb lieber nicht, Du würdest eingehakt werden. Das wäre Dein Ende.“ 133) Man erklärt ihm, daß es in Italien keinen unbequemen §175 gibt, und „…deshalb sind eben hier, ganz besonders in Rom, viele Menschen, die in Deutschland nicht mehr sein dürfen. Du, feine Menschen sind es, sogar sehr vornehme.“ 134)
Als Pfarre nach Fürth geht, weiß er sich auf dem Weg ins Vagabundentum: „Ich war auf das Verbandsgeschenk angewiesen. Eine Mark erhielt ich. Mit dieser Mark wollte ich meine neue Zukunft gründen. In der Fürther Herberge zur Heimat erstand ich für 25 Pfennig einen Wanderschein. Auf diesen Schein konnte ich Verpflegungen erhalten. Mein zweiter Weg war nach dem städtischen Arbeitsnachweis. Dort traf ich einen Kunden, der mir die ganze Sache schon deichseln wollte. `Also, nun macht´s Dein Antrittsstoß. Erst läßt Du Dir eine Bescheinigung in Dein Wanderbuch schreiben, daß Du vergeblich um Arbeit angehauen hast, dann kommst Du wieder zu mir.´ Ich ging und kam erfolgreich zurück. Dann führte mich mein Lehrmeister vor ein anderes städtisches Gebäude und sagte: `Da gehst Du nun herein und kriegst dreißig Pfennige,´ und setzte lakonisch hinzu: `Ich kriege nichts, ich war erst vor drei Wochen da.´ Das mochte ich nun nicht. Aber ich begriff, daß ich mußte. Es war doch noch der ehrliche Weg auf der Landstraße.“ 135)
Sind diese Quellen erschöpft, so führt der Weg nachts ins Asyl und tags zum Betteln. Nur wer bettelt, überlebt. Pfarre kann das nicht, selbst die edelste Form der Bettelei, das Anfechten seiner Meister, bei denen er um Arbeit nachfragt, versagt er sich. 136) So ist er hier und da auf eine Mark aus der Gewerkschaftskasse, Gutscheine der Asyle oder Stütze 137) vom Arbeitsamt angewiesen. Dazwischen hungert er oder findet Vagabunden, die ihn versorgen.
Auch Schroeder fällt das Betteln schwer: „Früher aß ich um diese Zeit zu Mittag, jetzt sind es drei Tage her, seit ich das letzte Mal gekaut habe. Ich kann eine Gaslaterne kitzeln, bis der Direktor lacht; ich habe in den zwei Tagen gelernt, einen Grünen zu ärgern, ohne daß dieser es merkt; aber betteln kann ich nicht!“ 138) Dann reist er mit erfahrenen Kunden zusammen, zu fünft „putzen“ sie ein Dorf, essen mehrere Male und werfen anschließend zusammen: wollene Socken, eine neue Weste, drei Pfund Wurst, Zigaretten, Tabak, Brot. Nur Schroeder weiß nichts beizusteuern und bekommt gesagt: „Wir hatten zuerst auch nur Brot gefechtet, Brot, Brot und noch einmal Brot, bis wir gewitzter wurden, aus uns hinausgingen und zusammenputzten, was wir zum Leben brauchten.“ Dann wird geteilt: für jeden gibt es zwei Zigarren, 12 Zigaretten, vierzig Gramm Tabak - Brüderlichkeit der Landstraße! Doch Schroeder lernt schnell und wird innerhalb weniger Monate ein Fechtmeister. Manche der Kunden und Vagabunden schaffen nie mehr den Weg zurück in die bürgerliche Gesellschaft, was nicht unbedingt an mangelnden Chancen lag, sondern an der Einstellung zum Leben: „War das ein unruhiger Geselle! Auf allerlei Schiffen hatte er, als Münchner Kind, die ganze weite Erde befahren. Irgendeine Aschenbrödelarbeit hatte er immer gefunden und auch wohl so gute Menschen, wie er selbst einer war. Immer faßte er das Leben von der sonnigsten Seite auf, er, der nur für ein Butterbrot arbeitete, immer hatte er gelacht und noch immer lachte er, trotz Hunger, trotz aller Rücksichtslosigkeit gegen ihn. Und weil die Menschen ihn nicht ernst nahmen, hatte er sie und ihre Arbeit nicht ernst genommen.“ 139) Das war der kleine bucklige Michael, der es nicht mehr schaffte, regelmäßig zu arbeiten und an einem festen Ort zu wohnen, obwohl ihm Verwandte die Gelegenheit dazu gaben. Er riß aus und flüchtete sich auf die Landstraße zurück.
Pfarre unterscheidet „dreckige Speckjäger und halbgut gekleidete, geriebene Kunden“. Im Großen und Ganzen war es unter „modernen“ Kunden üblich, in tadelloser Kleidung und mit einem „guten“ Namen betteln zu gehen. 140) Auch unter den Heimatlosen gab es Hierarchien, ganz unten befand sich der Speckjäger. Gregor Gog sagt über sie: „Das sind Unternehmer in Lumpen. Der Speckjäger ist ein Ausbeuter der Verkommenen; ein Organisator der Bettler und Simulanten; der Wucherer des Asyls …“ 141) Dann gibt es „den Landstreicher, den Menschen, der sinnlos umherzieht, für den das Herumtreiben eine besondere Art Trunksucht ist, was manche Forscher sogar veranläßt, von einem Atavismus der Instinkte aus der Nomadenzeit der Menschheit zu sprechen.“ 142) Und während der Kunde ein Landstreicher ist, der Bourgeoisie und Zivilisation haßt, ist der Vagabund ein bewußterer Landstreicher, jemand der die Landstraße gewählt hat. Dann gibt es noch Bettler und Dirnen.
Die Bezeichnung Kunden wird oft wahllos benutzt und meint alle Gruppen. Kunde heißt eigentlich Kundiger, im altniederrheinischen war der cunde ein Späher und Kundschafter. In jedem Fall weiß er mehr als andere, ist also ausgezeichnet gegenüber anderen. Das wird deutlich, wenn sich zwei Kunden auf der Straße begegneten. Der Frage „Kunde?“ mußte geantwortet werden mit „Ken Mathes?“ 143) Der Fragende möchte wissen, ob der andere überhaupt ein Kunde (=Kundiger) ist, ob er also evtl Auskunft geben kann. Die Antwort hat nichts mit dem Vornamen Mathes zu tun, sondern rührt von Medine (=Landstraße) und heißt daher soviel wie „Ich kenne die Landstraße“. 144)
Obwohl Kunden und Vagabunden sehr lax mit Moral umgehen, konnte man ihnen nicht unbedingt kriminelle Absichten unterstellen. Wohl waren sie Outlaws, Outcasts, Gesetzlose, die um ihr Überleben kämpften. Das ging oft nur außerhalb der bürgerlichen Moral und Gesetze. Doch hatten sie ihre Sprache, eigene Gesetzmäßigkeiten und Regeln. Ehre und Kameradschaft waren ihnen vertraut und viele waren stolz darauf, Kunde zu sein. Der Weg zurück in die Gesellschaft blieb ihnen nicht versperrt, auch wenn sie sozial ausgestoßen und heimatlos waren.
Andererseits war der Weg ins kriminelle Milieu einfach, da sich die Gauner in der gleichen Infrastruktur bewegten. Pfarre erinnert sich: „…lernte ich den Betrieb in der Herberge zur Heimat kennen. Aber waren das „Kunden“, „Monarchen“, „Speckjäger“ oder anders benannte „Ritter der Landstraße“? Nein! Soviel kannte ich nun doch schon die verlumpten, aber harmlosen Wandergestalten. Was sich hier zusammenfand, das kam nicht aus dem Chausseegraben, das gedieh nur auf dem Asphalt der Großstadt. Das nahe Oktoberfest hatte Nepper, Bauernfänger und Taschendiebe herangelockt.“ 145)
Vom Fechten über das Betteln führt der soziale Abstiegskampf zur sogenannten Schiebung 146). Unter Schiebung verstand man Taschenspielerei, Gaunereien, Betrug. So sammelten zwei Kunden in jedem Ort die Messer und Scheren, ohne einen Schleifstein zu besitzen. Mit etwas Schmirgel wurden sie blank poliert, mit Schellack die Griffe optisch verbessert: „Es kam uns auch nicht darauf an, die Messer zu schärfen, dann hätten wir ja auf ehrliche Weise unser Brot verdient.“ 147) Da gibt es dann den „Sibirier“: „Andere nannten ihn auch den Anarchisten. Er muckte 148) mit roten Fleppen 149), d.h. er bettelte die Sozialisten- und Anarchistenvereinigungen an. Wenn er dort leer ausging, konnte man ihn zum Beichten gehen sehen. Im Beichtstuhl focht er bei dem Geistlichen.“ Der „Schweizer“ spielte den Grafen, investierte ihn gute Kleidung und besaß sonst nichts. Dann besuchte er die Amerikaner in den guten Hotels und erzählte ihnen eine Geschichte, die ihm Geld brachte. Zwei andere, Polen, gingen jeden Abend auf die Balance. 150) Ihnen allen gemeinsam war es, mit betrügerischen Absichten vorzugehen.
Hasemann kennt dazu noch den Karrner: „Aus irgendeiner gottverlassenen Gegend, in der tatsächlich nur ein Haus stand, ist er aufgebrochen, nachdem auch noch die letzte Kuh gestorben ist, mit seinem Weibe, das er irrsinnig liebt. Er hat sich einen Wagen angeschafft mit einem fünffachen Knie als Schornstein. Ein Bett steht darin und ein kleiner Herd. Im Bette liegt ein Weib, hochschwanger, am Fenster vorn sind kleine Gardinen, die Fenster an der Seite sind verschlossen mit Seitenläden, wegen des Sonnenscheins, und nun zieht er diesen Wagen toujours die Landstraße längs. Unter dem Wagen läuft noch ein Hund, das einzige Vieh, das Treue besitzt in guten und schlechten Tagen.“ 151) Hasemann vermutet, daß aus dem Karrner der Wanderzirkus entsteht, indem sich ihm Kunden anschließen.
Gerhard Rieger
, genannt Jonny, betritt in Genf die Armee du Salut: „diese gottsverfluchte, internationale Vagabundenquetsche. Was die Loggia dei Lanzi in Florenz, Albergo Populare in Mailand, Schönbrünn in Wien, Pik Ass in Hamburg, das ist die Armee du Salut in Genf. Eine verdammt herrliche Bande war da zusammen: Ein Schweizer mit zerbeultem Mumiengesicht, der sich, weiss der Teufel woher, eine Fahrkarte nach Afrika besorgt hat. … Ein Spanier, politischer Flüchtling, schreibt Briefe. Ein dänischer Heizer macht Rast auf dem Tramp nach Konstantinopel. Zwei Tschechen kauderwelschen mit einem Bremer, der soeben der französischen Legion entwischt ist. Ein von allen verkohlter Russe ist da, der uns den Kaffee bringt …“ 152)
Kurt Motzer
verbrachte zu Anfang dieses Jahrhunderts 27 Jahre auf der Landstraße und erzählt: „Wer sich in Italien auf das Schmalmachen 153) verstand, dem ging es nicht übel, und stellenweise behielten die Bauern einen auch über Nacht. In Frankreich ist es mit der Tippelei mies. Das Plattmachen 154) gehört dort zur Tagesordnung. … Ich hatte mehrere Reisekollegen in Afric, aber immer wieder habe ich sie verloren. Weihnachten haben wir einmal, sechs deutschsprechende Kunden, in Tunis gefeiert. … Bei den italienischen Farmern in der Tunisie und den spanischen in der Provinz Oran wurde ich oft und gut bewirtet.“155)
In der Türkei und in Persien lernt Kurt Faber
den Mähändis kennen: „Mähändis ist alles und jedes; es ist die Ausrede, die jeder reisende Abenteurer durch das Land trägt, wenn ihm sonst nichts besseres einfällt. Ein Mähändis ist z. B. ein Ingenieur. Er kann aber auch bloß ein Monteur, ein Mechaniker, ein Schlosser, ein Chauffeur sein. Mähändis ist jeder, der nicht berufsmäßig mit Schafen und Ziegen zu tun hat.“ 156) Als ein Polizist, der ihn nach Papieren fragt, das Zauberwort „Mähändis“ hört, beginnt er glücklich zu strahlen, nun kann er Faber einordnen.
Mario Appelius
gerät nach seiner Flucht aus dem Elternhaus unter die italienischen „Trimards“: „Die Trimards sind bettelnde Vagabunden, die sich besonders darauf verstehen, ohne Arbeit durch die ganze Welt zu reisen. Sie leben von Almosen, von kleinen Schmarotzereien und harmlosen Diebstählen. Auf den Dampfern reisen sie als blinde Passagiere, auf den Eisenbahnen zwischen den Achsen der Güterzüge, beuten die Wohltätigkeitsvereine sowie die Kassen der Konsulate aus und rühren das Herz der im Ausland lebenden Landsleute. Es kommt ihnen aber auch nicht darauf an, sich je nach Bedarf als Angehörigen einer anderen Nation auszugeben. Ebenso leichthin wechseln sie ihre Glaubensbekenntnisse, sei es nun, daß sie einen Priester, einen Pastor oder einen Rabbiner vor sich haben. Sie haben das Vagabundieren und die Bettelei zu einer hohen Kunst entwickelt. Niemals geben sie zu, daß sie Habenichtse sind, stets sind sie nur vorübergehend ins Unglück geraten, haben durch irgendeinen Zufall ihre Arbeit verloren, oder wurden um ihr Gepäck gebracht. Vor Sportsleuten spielen sie den Sportler, vor Revolutionären den Umstürzler, vor Betschwestern den braven altmodischen Bürger. In den meisten Fällen sind sie von besserer Herkunft, halten sich sauber, kleiden sich einfach und lieben es, sich durch Bärte und Brillen ein professorales Aussehen zu geben. Durch lange Erfahrungen haben sie es fabelhaft raus, die lieben Nächsten zu beschwatzen und auszunutzen. Alles ist ihnen willkommen, nicht nur Geld, weil alles verkäuflich ist, seien es nun Lebensmittel , getragene Kleider oder sogar Bücher und Arzneimittel. Auch gute Empfehlungen sind von ihnen begehrt. … Sie verfolgen in den Zeitungen die Heiratsanzeigen, die Todesfälle, die Geburts- und Namenstage, die Gewinnlisten der Lotterien und die Ankunft von Verwandten, die von weither kommen, und stellen sich unweigerlich dann und dort ein, wo niemand ein Almosen verweigern wird. Ein jeder verfaßt einen schriftlichen Bericht über seine interessantesten Fälle und händigt ihn, ehe er die betreffende Stadt verläßt, einem Mitgliede der Gesellschaft aus, das ständig in der größten Stadt des betreffenden Landes wohnt und für ein bestimmtes Gebiet als Leiter und Vertrauensmann zuständig ist. Durch den Austausch ihrer Erfahrungen wissen sie genau, an wen sie sich in diesem und jenem Ort wenden, bei wem sie wohnen und Vorschuß bekommen können, wo sie mit getragenen Kleidern und Wäsche versorgt werden, wo ihnen in Krankheitsfällen und bei Scherereien mit der Polizei geholfen wird. Der Hauptsitz der Vereinigung befand sich damals in Berlin, die Vereinssprache hingegen war nach dem Vorbild der Diplomatie das französische, allerdings reich durchsetzt mit Vokabeln ihrer eigenen Gaunersprache. … Die Mitglieder setzten sich hauptsächlich aus Belgiern, Franzosen, Deutschen, Russen, Juden, Engländern und besonders auch vielen Österreichern zusammen. Italiener und Spanier hingegen traf man seltener.“ 157)
Man kann spekulieren, was an dieser Geschichte stimmt, oder ob sie eine Mischung aus Wahrem, Halbwahrem und Erfundenem ist. Appelius hörte diese Geschichte im Kreise solcher Trimards in Alexandria/Ägypten, verbrachte einige Zeit mit ihnen und nennt George Colet
, einen Belgier, Abraham Rosenthal, Herbert Bradson
, einen Nordamerikaner, den Franzosen Pere Duval
und Julien, Omar Adrajan
, einen Perser, den Finnen Kid-Kid, den Iren Allan und den deutschen Welsch. 158) Appelius ist zu dieser Zeit etwa 16 Jahre alt und man schreibt das Jahr 1908. Da kann es auch angehen, daß man ihn mit einer Mischung aus Mythen und Märchen gefüttert hat, weit genug weg vom Ort der Handlung.
Auch Kurt Faber hat so seine Erfahrungen mit dem fahrenden Volk: „Jedes Land hat seine Vagabunden. Das erbt sich fort wie eine Krankheit, solange es unruhige und abenteuerliche Menschen gibt. In Amerika aber, diesem Sammelbecken unruhiger Geister, hat sich eine besonders malerische Abart des Lumpazius Vagabundus herausgebildet: der Tramp. Der Name ist eindeutig. Man hört es förmlich aus den Buchstaben, wie sich ein Fuß vor den anderen setzt mit schwerfälliger Würde. Aber es ist trügerisch, wie oftmals die Namen. Wenn es etwas gibt, das dem amerikanischen Landstreicher in der Seele zuwider ist, so ist es eine lange Fußreise. … Nur entlang des Schienenstrangs kann er gedeihen. Die leeren Packwagen … sind seine Heimat. … Wer kein Geld hat oder nichts bezahlen mag, der muß sich schon der Mühe unterziehen, beim Herannahen des Zuges an die Station sich durch einen schnellen Sprung vom Wagen vor der Rache des Personals und den herumlungernden Bahndetektiven zu retten. Er versteckt sich in dem nahen Busch oder anderen Wagenreihen, um dann beim Abfahren auf denselben Zug wieder aufzuspringen, womöglich im selben Wagen, wo sich dieselbe Szene wiederholt. Und so vergeht mit Auf- und Abspringen die ganze lange Nacht. Aber zum Ziel kommt er so gut wie die anderen, denn ein echter Vagabund kommt stets dahin, wo er sich vorgenommen hat.“ 159)
Die amerikanischen Tramps wurden als Massenphänomen etwa ab 1873 bemerkt, als durch eine Wirtschaftskrise zahllose Arbeitssuchende von der industrialisierten Ostküste in den Westen zogen, entlang der amerikanischen Hauptverbindungswege, den Eisenbahnen. 160) Als Alois Zettler 1874 durch Amerika wandert, weiß er von der Wirtschaftskrise zu berichten und nutzt selbst die Züge als kostenloses Beförderungsmittel. 161) Sie waren vermutlich noch weniger gern gesehen als die Vagabunden in Europa. Beispielsweise gab es eine Gesetzesvorlage, die die Sterilisation der Tramps forderte, vermutlich im Bewußtsein, daß, wer so lebt, nur krank sein könne oder arbeitsunwillig. 162) Gesetze ahndeten das Trampen mit bis zu sechs Monaten Arbeitslager, Kurt Faber weiß davon ein Lied zu singen. Die Geschichte der amerikanischen Tramps läßt sich durch zwei Weltkriege bis in die heutige Zeit verfolgen. 163)
Den Mann auf der Landstraße gab es überall, in der Türkei nannte man ihn den „Kardasch“: „Kommst du in ein Haus oder eine Hütte, und sie nennen dich Kardasch, so bist du sicher und geborgen, tun sie es nicht, so magst du Ausguck halten nach den Böen, die voraus liegen. Kardasch nennt dich freundlich der dir Begegnende, oder er tut es nicht, und dann weißt du, was er von dir hält. Denn der Kardasch, das ist der Mann, dem die Landstraße gehört, der auf ihr zu Hause ist, er ist … ein Teil der Landstraße.“ 164)
Ein Reisender (Gezork
) trifft Vagabunden noch in Asien. Ein amerikanischer Vagabund hat geholfen, einen Freund aus einem rotchinesischen Gefängnis zu befreien, war dann Holzfäller, Farmarbeiter, Tramp in Kanada. Der andere, ein Vagabund aus Südafrika, zog über England nach Kanada, dann nach China: „So hat er buchstäblich eine Rundreise um die ganze Erde gemacht, auf der Suche nach Arbeit, wie er sagt. Ich hege allerdings meine stillen Zweifel, ob es bei ihm mit der Arbeitswut wirklich so ernst war. Er ist eben ein richtiger Vagabund; die ewige Wanderlust steckt diesem Burschen viel zu tief im Blut, als daß er's an einem Orte länger als ein paar Monate aushalten könnte.“ 165)
Gregor Gog, berühmter deutscher Vagabund, reist 1930 nach Moskau - ihn zogen die Außenseiter und Verstossenen an „die Bresprisornijs, Rußlands Kindervagabunden, die Weltkrieg, Hungersnot und Bürgerkrieg zu mit allen Wassern gewaschenen Räuberbanden hatten werden lassen.“ 166)
„Die Auflösung der auf materielle Sicherheit gegründeten bürgerlichen Ordnung und die Lockerung aller bisher gültigen moralischen Begriffe ließen … ein Lebensgefühl entstehen, das den Unbehausten, den Grenzgängern, Abenteurern und Vagabunden, auch bei den Intellektuellen, eine kaum mehr vorstellbare Popularität verschaffte. Jack London und B. Traven erzielten Massenauflagen. Der Tramp Charlie Chaplin, melancholischer Verlierer und Angreifer zugleich, wurde zum enthusiastisch gefeierten Volkshelden. Wanderstab und Bettelsack waren die romatische Verkleidung des erschütterten bürgerlichen Lebensgefühls, aber auch Symbol für Hoffnung und Widerstand.“ 167)
Karl Raichle
, Plivier
, Gregor Gog
trafen sich nach dem Ersten Weltkrieg in Urach am Rande der schwäbischen Alb: „das schon vor dem Krieg ein Treffpunkt für Wanderprediger und Tippelbrüder, Lebensreformer und Naturapostel war und sich nach 1918 zum süddeutschen Zentrum der lebensreformerischen Bestrebungen entwickelte.“ 168) Die drei bildeten den Matrosenkreis: „im Ahasver, im ewigen Juden erkannte man sich wieder. Gottsucher waren sie, namenlose Männer des dämmernden Morgens, wie Plivier 1919 in einer Selbstanzeige des neugegründeten Verlages der Zwölf schrieb.“ 169)
Künstler und Intellektuelle gingen aus ideologischen Gründen auf die Landstraße. Gustav Brügel
, Landstreicher und Schriftsteller aus Balingen bei Stuttgart, gab 1927 die erste Zeitschrift der Vagabunden, den „Kunden“, heraus, Gregor Gog übernahm nach der ersten Nummer. Gog gründete die „Bruderschaft der Vagabunden“. Zusammen mit Pfarrern, Dichtern, Anarchisten und Malern, Träumern und Wanderpredigern, Jugendbewegten und Asozialen, alle auf der Landstraße, baute man Kontakte zu den Berliner „Anarcho-Syndikalisten“ und der „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“ auf. Sie alle trugen zum „Kunden“ bei. 1928 fand der erste öffentliche Vagabundenabend in Stuttgart statt, weitere folgten in Berlin, Mannheim, Hamburg, Dortmund. Pfingsten 1929 gab es dann das erste große Vagabunden-Treffen in Stuttgart mit 600 Teilnehmern aus Deutschland, Österreich, Böhmen, Polen, Dänemark, Finnland, Ägypten - aber keine aus Frankreich. 170) 1930 wird erstmals ein Vagabundenfilm gedreht, an dem Gregor Gog und zahlreiche andere Vagabunden teilhaben. Im gleichen Jahr gibt es in Deutschland acht Ausstellungen von Vagabundenkünstlern. 1933 wird Gregor Gog verhaftet, kommt in mehrere KZs und kann Ende 1933 in die Schweiz fliehen. Die Bücher der Vagabunden wurden verboten, das gesamte Archiv abtransportiert. Die folgenden zwölf Jahre genügten, um Kultur und Tradition der Vagabunden fast vollständig auszurotten.
Die große Zeit der Handwerksgesellen ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg vorbei. Mit der Aufhebung der Zünfte und der Einführung der Gewerbefreiheit im 19. Jahrhundert hatte diese Bewegung ihren Zenit überschritten. Winnig kam sich 1897 in den großen Städten fehl am Platze vor. Die Industrialisierung Europas und die sich zyklisch wiederholenden Wirtschaftskrisen führten in Schüben immer mal wieder zu einem Anstieg der Massen auf den Straßen. Doch nun nahmen Arbeiter, Wanderarbeiter und Lumpenproletariat die Stelle der Gesellen ein. 1927 waren 70.000 Menschen auf den Straßen Deutschlands unterwegs, sechs Jahre später waren es bereits wieder 450.000. 171) Immer spiegelte sich in den Wanderungsbewegungen die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Unsicherheit. Die Nationalsozialisten brachten ab 1933 die Vagabunden mit allen Mitteln von der Straße: Arbeitslager, Verhaftung, Razzien, Entmündigung, Psychiatrisierung und sechs Jahre Krieg beseitigten fast alle Spuren der Heimatlosen. 172) Auch für die „Nicht-Seßhaften“ von heute ist die Landstraße meist ohne Romantik, sondern hat eher mit dem Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und sozialem Abstieg zu tun.
Vereinzelt wandern Handwerksgesellen noch heute mit Ehrbarkeit 173), Staude 174), Schlapphut, Stenz 175) und schwarzen Cordhosen. Auch wenn sie nicht mehr Teil einer gesellschaftlichen Massenbewegung sind, so erhalten sie doch die Traditionen aufrecht. Sie werden „als Exoten bestaunt in einer durchtechnisierten, profitorientierten Welt“. 176) Sie tragen immer noch den Berliner mit Rasierpinsel, Unterwäsche, Schuhputzzeug, Hammer, Lot und Wasserwaage und scheniegeln 177)) bei Krautern 178). Etwa 3000 organisierte Gesellen gab es 1985: sie dürfen keine dreißig Jahre alt sein, weder verheiratet noch vorbestraft, dürfen keine Schulden haben, sollen charakterfest im Umgang mit Alkohol sein. Sogar eine „Confédération Compagnonnages“ der europäischen Gesellenzünfte gibt es.
Und die andere Seite, die Vagabunden, Berber, Landstreicher? Ihre Zahl nimmt zu, entsprechend der Arbeitslosenquote. 1971 lebte ein Reporter eine Woche lang als Penner, schlief im Düsseldorfer Nachtasyl der Franziskaner und in der Hamburger Mönckebergstraße. Acht Tage Betteln brachten ihm 31,88 Mark ein. Und die Gespräche im Asyl hätten auch 50 Jahre früher stattfinden können. Der eine will in den Süden, nach Spanien, wo´s warm is´. Eine Nutte schüttet sich die Bierreste aus den Gläsern zusammen, den Klapperschluck. 179) 1975 ziehen wieder zwei Reporter mit den Pennern los. Da treffen sie dann beispielsweise den Ex-Söldner, der jedes Jahr sechs- bis achtmal kreuz und quer durch Deutschland zieht, zu Fuß, per Anhalter oder mit Zug und „Bahnbenutzungsgenehmigung“ des Sozialamtes, von einer der 700 Herbergen zur nächsten. Und sie werden immer noch „abgebient“, nach Läusen untersucht. In der Celler Herberge zur Heimat will der Diakon 1,30 Mark pro Nacht und für die Flasche Bier 1,10. Gegessen wird auf Kommando: nach sieben Minuten sind Graupensuppe und Brot verschlungen. Am nächsten Tag geht es weiter, denn in den meisten Herbergen darf man nur alle sechs bis zwölf Monate übernachten. „Die meisten von uns wollen nicht auf die Straße, sie müssen - weil sie vor sich selbst und den anderen auf der Flucht sind. Deshalb sind die meisten Berber 180) Einzelgänger, die keinem trauen.“ 181)
Was hat sich da schon viel geändert in den letzten 100 Jahren? Selbst Entromantisierung, Zerschlagung von Strukturen und Traditionen erreichen nicht die Wurzeln und Ursachen des Unterwegsseins. Der Wandertrieb findet sich in allen Menschen und bei vielen ist er stärker als das Bedürfnis nach Sicherheit. Hieraus nährt sich eine jede Wanderbewegung. Zeiten wie der Zweite Weltkrieg mögen einige Jahre nachbeben, so daß sich die meisten Menschen angesichts ihrer Erfahrungen für die Sicherheit entscheiden. Dann setzt erneut die Zeit der Wanderer ein. Das Wiederaufflackern der Wanderbewegungen begann etwa in den fünziger Jahren. Klaus Trappmann bringt es auf den Punkt: „Als langjährige Gammler hatten wir begonnen, aus der Enge der Fünfziger Jahre auszubrechen. Die Straße wurde zum Inbegriff unserer Wut und unserer Hoffnungen. Zwischen Kerouacs „On the road“, den frühen Liedern Bob Dylans und den ersten Vietnamdemonstrationen liegen nur wenige Jahre. Rocker, Trebegänger 182), Knackis und umherschweifende Haschrebellen 183) interessierten uns nicht so sehr als Opfer des Kapitals, sondern weil wir uns einig glaubten in der Verweigerung und in unserer Verzweiflung.“ 184)
In der Übersicht fallen Ähnlichkleiten auf zwischen der Walz der Gesellen, dem Vagabundieren und dem heutigen Globetrotten, die sowohl positive als auch negative Aspekte haben können:
Den drohenden Gefahren hat die Gesellschaft bereits früh entgegengesteuert. Die soziale Kontrolle übernimmt die Polizei, deren Aufgabe es ist, dem völligen Verfall sozialer Bindungen durch Druck und Strafe entgegenzusteuern: Papiere sind nötig zur Identifikation, Betteln und Platte reißen 186) sind verboten, Bemühungen zur Arbeitssuche werden in den Papieren dokumentiert ebenso wie Übernachtungen in Herbergen.
Ein minimales soziales Netz wird aufrechterhalten, z.B. durch Meister, Innungsherbergen, Gesellenheime für die Handwerksgesellen; durch Asyle, Verpflegungsgutscheine, Pflicht zur Obdachlosenbetreuung, kirchliche Herbergen für die Vagabunden.
Es besteht ein Zusammenhalt innerhalb des fahrenden Volkes durch eine gemeinsame Kundensprache, durch Verhaltensregeln, einen Ehrenkodex und ausgeprägte Kameradschaft. Eine Hierarchisierung der Heimatlosen in unterschiedliche Gruppen (Speckjäger, Dirnen, Vagabunden, Kunden) mit unterschiedlichem Ansehen führt zu eigenen sozialen Strukturen.
Die biographische Angaben sind überwiegend den Reiseberichten selbst entnommen; sind also subjektiv gefärbt. Diese herauszufinden oder aus anderen Aussagen abzuleiten bedurfte teilweise detektivischer Kleinarbeit. In einigen Fällen (Winnig, Schroeder, Hasemann) lieferte das „Deutsche Biographische Archiv“ wertvolle Hinweise, jedoch in unterschiedlichem Umfang. In anderen Fällen (Appelius, Heye, Heinrichs) haben die Betreffenden zu wenig öffentliches Interesse erregt und werden von der einschlägigen biographischen Literatur nicht erwähnt.
* 6.9.1888, Bildhauer und Graphiker, stammt aus Berlin 187) und lernte dort an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbes, studierte dann an der Karlsruher Akademie Bildhauerei und Graphik. 188) Seine beiden Wanderungen fanden wahrscheinlich nach 1906 statt, jedoch vor dem Ersten Weltkrieg und dauerten zumindest mehrere Monate. Das erste Mal reist er mit dem Maler Bröker und seinem Bruder nach Florenz und Venedig. Auf der zweiten Reise begleiten ihn Cassian Eisenzahn und Tönchen Strömer, ein Ungarn. Beide spielen Geige, Hasemann schlägt die Laute und gemeinsam verdienen sie ihr Geld mit der Musik in Wirtshäusern, auf der Straße oder bei Privatpersonen. Wenn sie gut verdienen, leben sie in teuren Hotels und Gasthöfen, werden bei Reichen gut verköstigt, denen ihre Musik gefällt, dann wieder knurrt ihnen der Magen und sie reißen Platte. „Lagen wir heute auf dem Schutthaufen, morgen speisten wir dafür im Hotel Milano am Canale grande in Venedig, zwischen englischen Pfarrern und reichen Kaufleuten.“ 189) Einmal reicht ihnen eine Mark für das tägliche Essen und die Unterkunft, ein andermal schlagen sie in zwei Tagen zweihundert Mark auf den Kopf 190), um dann wieder mit leeren Taschen da zu stehen. „Reicht unser Geld fürs Nachtquartier? Wenn nicht, so wird gespielt, und du … gehst mit dem Teller unter die Leute.“ 191) Ihre Reise führt durch den Schwarzwald über Gutach (dort wohnt sein Onkel, der Maler Wilhelm Hasemann), dann in die Schweiz. Über Montreux, Martigny, Lyon, Brienz und Simplon tippeln sie nach Italien, dann nach Lugano. Sprach- und Geldschwierigkeiten überwinden sie immer wieder mit ihrer Musik, damit verdienen sie Essen und Übernachtung, gewinnen Kontakte und erhalten oft sogar Geld. In Genua schiffen sie sich auf einem billigen Kohlendampfer ein, durchkreuzen das Mittelmeer, sind kurz in Ceuta und verlassen in Gibraltar das Schiff. Zu Fuß geht es über Estepona nach Malaga, dann mit dem Schiff nach Barcelona und zurück nach Hause. Hasemann erzählt viel von Frauengeschichten, vom Wein und von Musik. „Das sind die beiden großen Genüsse dieser Welt - Wein und Weib, die darf man nicht erkaufen.“ 192) Sein persönlicher Gewinn aus der Reise ist es, die Frau gefunden zu haben, die er liebt und mit der leben kann. „Hinter mir liegen jetzt die Zeiten der Landstraße, da ich jetzt einen Raum habe, in dem ich schaffen kann und beweisen, daß wir nicht untergegangen sind im Würfelspiel des Lebens; hinter mir - und doch sehnt sich mein Gemüt oft nach ihnen.“ 193) Außerdem beginnt er mit dem Holzschnitt und hat damit großen Erfolg. Den ersten Weltkrieg verbringt er an mehreren Fronten. Nach dem Krieg (1917) veröffentlicht er „Himmel und Hölle auf der Landstraße“, das bis 1922 immer neue Auflagen erlebt, aber sein einziges Buch bleibt; später werden noch drei Mappen mit Holzschnitten veröffentlicht.
(* ca. 1879) reist von Juni 1896 bis Oktober 1898 von Münster durch Österreich, Ungarn, Serbien, Bulgarien, Rumelien, Türkei, Syrien, Palästina, Ägypten, Italien, die Schweiz und zurück nach Münster. Er ist gelernter Friseur, lebt unterwegs von Erspartem, von Geldsendungen der Eltern und von vereinzelten Arbeitsstellen. Neben seinem Reisebericht, der mehrere Auflagen erlebt, schreibt er einige später noch ein Buch mit dem Titel „Sollen wir auswandern?“ Ihm ist ein eigener ausführlicher Bericht in dieser Reihe gewidmet worden.
* ca. 1894, Hamburger, ist ein Ästhet und Romantiker, ihn zieht es nach Italien. Er will Neapel und Rom sehen und Kunst studieren. Als gelernter Stukkateur und Bildhauer findet er keine Arbeit und ist auf Betteln und Vagabundieren angewiesen, eine Lebensform, die ihn fasziniert, die er jedoch nicht in der Lage ist zu praktizieren - er bleibt auf andere angewiesen. Seine Reise dauert von etwa August 1912 bis März 1913 und führt ihn von Deutschland (Detmold, Nürnberg,) nach Österreich, Italien, in die Schweiz und zurück nach Hamburg. Auch ihm bietet diese Reise eine wichtige Erfahrung: er stellt fest, daß er dem Bildhauer- und Stukkateur -Dasein nichts abgewinnen kann und daß er als Dichter nicht gut genug ist. Seine Erfüllung findet er, wieder zu Hause, als Techniker in der Metallbearbeitung. Für Alfred Pfarre bleibt dies sein einziges Buch; über sein weiteres Leben ist aus der Literatur nichts zu erfahren.
(1.) Probandus. Die Geschichte einer Wanderschaft. Hanseatische Verlagsanst. Hamburg. 1923. 248p. 8°. OLn. 16 SW-Abb. a. 16 Tfll.
(* 1904) hat die Volksschule besucht, dann eine Lehre als Installateur beendet. Die erste Gelegenheit nimmt er wahr, um auf Walz zu gehen. Es hält ihn nichts in Trier, das Elternhaus flieht er. Sein Vater ist Arbeiter und hat wieder geheiratet, nachdem seine Mutter bereits 1917 gestorben ist - und auch mit dem Vater verbindet ihn anscheinend nicht viel. So macht er sich achtzehnjährig etwa Mitte 1922 auf den Weg, zunächst nach Köln. Ihn faszinieren die vielen unterschiedlichen Menschen auf der Straße, auch wenn sie ihn ausnützen oder betrügen. Er sucht und findet Arbeit in Solingen (im Pumpwerk Elb) und arbeitet dort etwa ein Jahr, bis die Weltwirtschaftskrise ihn in die Arbeitslosigkeit wirft. Hamburg, München, Friedrichshafen, Konstanz, Ludwigshafen, Ingolstadt, Eichstädt, Nürnberg, Coburg, Halle, Potsdam, Berlin, Hamm, Unna sind die weiteren Stationen seiner Reise. Immer wieder versucht er Arbeit zu erhalten, doch es gelingt ihm nicht. So rutscht er langsam tiefer und die etwa vier Monate seiner Wanderschaft sind eine stete Gratwanderung zwischen seinem Verständnis als Handwerksburschen und der Lust, die er der Wanderung verdankt. Dabei fühlt er immer wieder die Gefahr abzurutschen, auf der Landstraße zu bleiben, nicht mehr zurück zu können. Anfangs kann er nicht betteln, ist aber bald ein Profi. Er fühlt sich zuhause auf der Landstraße: Vielleicht ist das der Grund, daß er seine Wanderung nach etwa vier Monaten abbricht und im Dezember 1923 wieder nach Solingen zurückkehrt. Er ist mit dem Schriftsteller Heinrich Lersch gut befreundet und fängt selber 1932 an zu schreiben: humoristische Arbeitergeschichten, Jugendbücher und sein Erinnerungsbuch an seine Wanderschaft.Später lebt er in Hilden/Rhld.
* 31.3.1878, + 3.11.1956 Bad Nauheim. Winnig ist Nachkomme der lutherischen Totengräberfamilie der Stadt Blankenburg im Harz und jüngstes Kind von zwölf Geschwistern. Nach der Volksschule lernt er Maurer und arbeitet 12 Jahre in diesem Beruf. Nach der Lehre geht er achtzehnjährig auf die Walz (Mai 1896 - Mitte 1898) und lernt Braunschweig, Hannover, Bremen, Bremerhaven, Münster, Recklinghausen, Herne, Essen, Köln, Rüdesheim und Mannheim kennen. Er fühlt sich bereits als Schriftsteller und Dichter. Wichtig sind ihm seine Erfahrungen in der sozialistischen Bewegung, überall in den größeren Städten sucht er wieder Anschluß, geht zu Vorträgen und Diskussionsabenden. 1900-1902 dient er im Infanterieregiment 46, 1905 wird er Redakteur des Maurer-Fachblattes „Grundstein“, ab 1913 ist er für die SPD Mitglied der hamburgischen Bürgerschaft. 1918 wird er zum Reichskommissar des Ostens und zum Botschafter bei den provisorischen Regierungen von Estland und Lettland ernannt, ab 1.7.1919 ist er Oberpräsident von Preußen, außerdem Mitglied der Nationalversammlung. Nach dem mißglückten Kapp-Putsch wurde er von seinem Amt suspendiert und schied aus der SPD aus. Mittlerweile bewegte er sich politischen bereits jenseits des rechten Randes der SPD und hatte den Putsch gebilligt. In einer Biographie von 1933 wird sein „tapferes Eintreten für das deutsche Volkstum“ hervorgehoben. Von 1922 bis 1924 studiert er Geschichte und Volkswirtschaft und beginnt dann zu schreiben. Auf eine Reihe autobiographischer Bücher folgen dann Romane, Novellen, Erzählungen und Werke zur politischen Geschichte und zum Christentum, insgesamt circa 40 Bücher. Politisch zieht er sich immer mehr zurück, lehnt auch 1933 die ihm angebotene Führung der deutschen Arbeitsfront ab und bewegt sich in einem konservativen und christlichen Umfeld. Seine Erinnerungen an die Walz schreibt er erst nach mehr als zwanzig Jahren aus der Erinnerung auf, sein Wandertagebuch ist teils weggeworfen, teils unleserlich. Auf der Reise lernt er, daß das Maurerdasein für ihn eine wichtige Erfahrung ist, ebenso wie das Reisen, daß er jedoch in beidem keine Erfüllung finden kann.
Das Buch Wanderschaft.
Hanseatische Verlagsanst. Hamburg. 1941. 329 p. 8°. OHLn. 10 Textzeichn. (65. Tsd. Ex. bis 1954).
Winnig hat darüber hinaus etwa 30 weitere Bücher geschrieben, vor allem politische und religiöse Sachbücher sowie Erzählungen und Romane. Da sich keines mit dem Thema Reisen beschäftigt, wird auf die Bibliographie dieser Publikationen an dieser Stelle verzichtet.
(* 9.10.1854, + 9.10.1942) wandert vier Jahre, von 1872 bis 1876, durch Deutschland (München-Frankfurt), Schweiz, Italien, Österreich-Ungarn, (Zürich-Genf), Tschechei, Frankreich, England und die USA. Dabei sucht er gezielt Stellen, bei denen er als gelernter Elektrotechniker Neues lernen kann, unter anderem arbeitet er bei Edison. Er findet immer Arbeit in Europa und verdient gut, sein Glück verläßt ihn jedoch in Amerika: „Es will mir nicht gelingen, eine Arbeit zu finden. … Geld brauche ich ganz dringend. Ich hungere schon seit Tagen.“ 194) Zettler paßt sich an und springt auch auf Züge auf. 195) Auszüge aus seinem Reisetagebuch werden 100 Jahre nach seiner Reise erstmals herausgegeben und vernachlässigen gerade die reisepraktischen Hinweise, sind also für diesen Beitrag wenig ergiebig. Er reist gezielt, weiß, was er will, und nutzt seinen Mut, seine Energie und sein Wissen , indem er ein Jahr nach seiner Rückkehr eine eigene Firma gründet, die heute noch existiert. Damit hatte die Walz ihren Zweck für ihn erfüllt: „Das Tagebuch ist gefüllt, meine Wanderjahre sind zu Ende. Was wird die Zukunft mir bringen?“ 196)
Folgende Artikel von Norbert Lüdtke erschienen in der Reihe Geschichten des Individuellen Reisens im TROTTER (DZG)
1 | Mit Knotenstock und Ränzel | Trotter 74 | 1994 |
2 | Die Reisen des Kurt Faber | Trotter 76 | 1995 |
3 | Handwerksgesellen unterwegs | Trotter 77 | 1995 |
4 | Fluchtreisen, u.a. Harrer | Trotter 78 | 1995 |
5 | Die Reisen des Arthur Heye | Trotter 79 | 1995 |
6 | Künstlername Rox | Trotter 80 | 1996 |
7 | Geschichte der Fußreisen | Trotter 93 | 1999 |
In der Reihe Wir Globetrotter erschienen von Norbert Lüdtke:
1 | Reisen aus Leidenschaft | Trotter 122 | 2006 |
2 | Sind wir nicht alle Touristen? | Trotter 123 | 2007 |
3 | Was braucht der Globetrotter zum Reisen? | Trotter 124 | 2007 |
4 | Zeit fürs Reisen | Trotter 125 | 2007 |
5 | Von Freiheiten und solchen Reisen | Trotter 127 | 2007 |
6 | Die Fremdheit des Reisens | Trotter 130 & 131 | 2008 |
siehe auch:
* Literaturliste zur Reiseliteratur
* Bibliographien
* Literaturliste zum Fussreisen
* Literaturliste Fahrendes Volk mit den Quellen zu diesem Beitrag
* Fachliteratur
Abdecker
abgebient
Adrajan
Ahasver
Albergo Populare
Allan
Anarcho-Syndikalisten
Armee du Salut
Balance
Balwutz
Beize
Berber
Berliner
Beza
Bradson
Bresprisornijs
Brügel
Büttel
Butz
Chaplin
Colet
Confédération Compagnonnages
Cordhosen
Deckel
Deutschen Hilfsverein
Dirne
Doktor der Schaumschlägerkunst
Dormitori economici
Ehrbarkeit
Flammer
Fleppen
Fleppenpanscher
Fuselbrüder
Gammler
gerieben
Gilde freiheitlicher Bücherfreunde
Göhre
Gott segne das ehrbare Handwerk
Gottsucher
Granit
Handwerksburschen
Hanf
Haschrebellen
Heiligkeit
Heilsarmee
Henker
Herberge zur Heimat
Hilfsverein
Hochstabler
Hotel Bengasi
Jenischen
Kaff
Kalle
Kardasch
Karrner
katholischen Gesellenverein
Ken Mathes
Kesselflicker
Kid-Kid
Kientgen
Klapperschluck
Knackis
Knotenstock
Krätze
Krauter
Kuckuck
Kunden
Kundenpennen
Kundenschall
Kundensprache
Künstlerverein
Landstreicher
Lebensreformer
Lechum
Loggia dei Lanzi
Lumpazius Vagabundus
Lumpenproletariat
Mähändis
Motzer
muckte
Mutter Grün
Naturapostel
Nicht-Seßhaften
Obdachlosenasyle
Palme
Pelerine
Penunse
Pik Ass
Platte reißen
Plattmachen
Pulvermacher
putzen
Questura
Ränzel
Räuberhöhle
Reisläufer
Rocker
Roltsch
Rotwelsche
Scharfrichter
scheniegeln
Schickse
Schiebung
Schinder
Schlapphut
Schlummerkies
Schmalmachen
Schnürbeutel
Schwimmling
Speckjäger
Staude
Stenz
stoßen
Tippelbrüder
Tippelschickse
Tippelschwester
Tramp
Trebegänger
Trimards
Trittlingen
Übernachtungsbuch
Unvernunft
Vagabund
Verbandsbuch
verratzt
Walz
Wanderarbeiter
Wanderprediger
Wandervögel
Winden
Wochenlohn
Zehrpfennig
Zimmerer
Zunftherberge
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Faber
, Mit dem Rucksack nach Indien, S. 66Gezork
, S. 75 f.