Inhaltsverzeichnis

Reisen und Geographie

Erstes und zweites Gesetz der Geographie

Everything is related to everything else, 
but near things are more related than distant things.
Toblers erstes Gesetz der Geographie

1969 formulierte Waldo Tobler dieses »Gesetz« bei einer Tagung der Sitzung der Internationalen Geographischen Union. Der Zwischenraum zwischen den Dingen wird damit gewichtet (nach Entfernung und Widerstand, friction), beeinflusst die Raumvorstellungen auf der Erde und bestimmt die backcountry navigation.

The phenomenon external to an area of interest 
affects what goes on inside.
Toblers zweites Gesetz der Geographie

Reisen als geographische Methode

Reisen wird wissenschaftlich vor allem literarisch untersucht und historisch, zunehmend auch als touristisch-ökonomisches Forschungsfeld, wobei Reisen und Tourismus oft synonym verstanden werden. Zwar sind im Tourismus die Merkmale Entfernung und Entdeckung (als dem Begegnen mit der Andersartigkeit von Orten und Kulturen) erhalten geblieben, doch fehlen ihm Risiko und die lange Dauer des Reisens. Die Definitionen des Tourismus schließen jedoch eine Anzahl von Reiseformen aus (s. Absätze 37–45). Während die Tourismusdefinitionen das Makrosystem ins Auge fassen und auf den Touristen als Figur schließen, analysiert Lecoquierre das Handlungssystem auf der Mikroebene und schließt bottom-up auf die Reiseform.

Reisen als geographische Methode bleibt weitgehend unbeachtet. Dieser Lücke widmet sich Bruno Lecoquierre und zitiert Roger Brunet, der in „Les mots de la geography“ Reisen als „den natürlichen Sport der Geographen“ bezeichnete, als eine geografische Aktivität im geografischen Raum, zugespitzt als existentiellen Augenblick der Konfrontation mit dem Raum. Neutral bezeichnet er Reisen als einen Vektor der Mobilität und eine Modalität der Begegnung mit dem Anderssein. Dem Wissenschaftler (etwa Geographen oder Ethnologen) wird sie zur „le voyage comme modalité méthodologique“.

Für Jean-Jacques Rousseau gab es 1755 (Discours sur l'Origine …) nur vier Kategorien Reisender, die lange Reisen unternehmen: Seeleute, Kaufleute, Soldaten und Missionare. Ein geographisches Paradigma stellt daher die Expedition von Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland nach Lateinamerika (1799–1804) dar, die sich nicht mit der Erkundung von Küstenlinien begnügte, sondern systematisch das Innere eines Kontinents untersuchte (siehe das Zitat von Humboldt, 1848, bei Lecoquierre). Besonders charakteristisch erscheint dem Autor die l’exploration als Erkundung, für deren Etymologie er auf Yves Lacoste (2003) verweist, der sie ableitet vom lateinischen ex prolator 'se porter en avant vers l’extérieur'.

Erst die Fort-Bewegung durch einen unbekannten und damit risikobehafteten Zwischenraum macht das Reisen wesentlich aus (siehe das Zitat von Claudot-Hawad, 2002) und unterscheidet es vom Nomadenleben. Weit und lange Reisende erscheinen ihm als Hüter einer sehr alten Tradition der Bewegung, deren Werte auf Isolation, Risiko, Unbehagen, zeitlicher Unsicherheit beruhen. Levi-Strauss zitierend bietet er ein erweitertes Verständnis von Reisen, dass nicht nur den Raum (mit drei Dimensionen) betrachtet, sondern die Zeit und die kulturelle Verschiebung als vierte und fünfte Dimension heranzieht, ein Unterwegs-Sein. Schließlich betont er die Rückkehr als notwendige Phase des Unterwegs-Seins und als Unterschied zum Migranten. Dieses Verständnis deckt sich weitgehend mit dem Verständnis des Reisens als soziotechnischem Handlungssystem.

Verschiedene Reisefiguren haben Unterschiedliche Vorstellungen von der Bewegung durch den Raum: der Passagier definiert ein Ziel und sucht den effektivsten Weg dorthin, der Reisende geht den Weg, den er findet (Zitat Marc Augé 1992).

Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal liegt in der Art und Weise, wie sich beim Ankommen das Gleichgewicht zwischen Akkomodation und Assimilation einstellt. Die physische Begegnung zwischen Reisenden und Bewohnern löst einen Lernprozess aus, führt also zur Veränderung auch des Reisenden (siehe MIT : „Mobilités, itinéraires, territoires“, Université Paris 2002). Auch dies ungterscheidet sich von der Taylorisierung touristischer Riten und der Disneylandisierung beim Ankommen des Touristen.
Dem entsprechend betrachtet der Autor das Reisen als „interface de situation“ und betont dabei die Priorität von Differenzierung und Austausch bei drei Arten von Schnittstellen (Abs. 47-48):
– « interfaces qui ménagent l’altérité » > Alltag im Nicht-Alltäglichen
– « interfaces qui exploitent l’altérité » > Suche nach Authentizität
– « interfaces qui mettent en scène l’altérité » > Suche nach einer Bühne

Literatur