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Unterwegs-Sein
Wer unterwegs ist, muss fort. K.F.W. Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexicon
Als underwegen bereits im Althochdeutschen nachweisbar. Als Phrasem ist sein Bedeutungsgehalt nicht aus den Grundwörtern `unter´ + `Weg´ ableitbar, sondern umfasst mindestens folgende Bedeutungen 1):
- wenig zuhause [also wegorientiert]
- sich auf dem Weg irgendwohin befindend
[also suchend, zielorientiert] - draußen/auf der Straße
[genauer: auf dem Weg > also handlungsorientiert] - schwanger
[also entsteht etwas Neues]
Dieser eigenartige Begriff ist aus dem Deutschen nur unzureichend in andere Sprachen übersetzbar, weil sein Konzept unbestimmt erscheint, denn `Unterwegs-sein´:
- setzt zwar Fortbewegung voraus, bleibt jedoch offen für deren genaue Art - ganz gleich, ob zu Fuß, mit Boot, Fuhrwerk oder Flugzeug;
- setzt zwar Orte voraus, zwischen denen man unterwegs ist, jedoch spielen die Orte selbst keine Rolle, denn die Bedeutungen `fort von zuhause´ (Wohnort, Herkunftsort, Heimat) und `hin zu etwas´ dienen nur dazu die Handlung im Raum dazwischen anzuzeigen (→ Raumvorstellungen: Zwischenraum);
- setzt zwar eine Absicht voraus, bleibt jedoch offen für deren genaues Ziel;
- setzt ein Verb voraus (meist `sein´), ist also nicht anders als (aktiv) handelnd denkbar, lässt jedoch die Art der Handlung offen und
- verlangt dadurch nach einer (passiven) Offenheit für das, was unterwegs geschehen wird (Serendipity).
Die Methode besteht also darin, sich zu bewegen, damit daraus etwas Neues entstehen kann. Dieses Konzept Eins-zu-Eins in andere Sprachen zu übersetzen ist nur begrenzt möglich (`auf dem Weg sein´) und sehr schwierig im Italienischen, Norwegischen, Russischen und Serbischen. Selbst im Englischen (on the way, on the road) oder Französischen (en route) werden nicht alle Bedeutungen abgedeckt und kompliziertere Formulierungen benötigt.
→ Konzepte des Unterwegs-Seins: Gang - Fahrt - Reise und andere
Das Makrosystem Unterwegs-sein bildet mit dem Mesosystem Navigation und dem Mikrosystem des mobilen Alltags die wesentlichen Bereiche des soziotechnischen Handlungssystems.
Literatur
Scheller-Boltz, Dennis
unterwegs: Deutsche Idiomatik im Spiegel der Sprachen.
In: Koroliov, Sonja/ Weinberger, Helmut/ Scheller-Boltz, Dennis/ Scharr, Kurt (Hrsg.) (2019): Am Zug – Aufbruch, Aktion und Reaktion in den Literaturen und Kulturen Ost- und Südosteuropas. Eine Festschrift für Andrea Zink zum 60. Geburtstag. Innsbruck: innsbruck university press, 208-222 Online.Gebhardt, Winfried
,Ronald Hitzler
,Bernt Schnettler
Unterwegs-Sein. Zur Einleitung.
in: Nomaden, Flaneure, Vagabunden. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006. 9-20. OnlineVaporis, Constantine Nomikos
Breaking Barriers : Travel and the State in Early Modern Japan.
(=Harvard East Asian monographs, 163) XII, 372 S. Cambridge 1995: Council on East Asian Studies Harvard University.
Constantine Vaporis stellt die Annahme in Frage, dass ein ausgefeiltes und restriktives System von Reisevorschriften in Tokugawa, Japan, ein weit verbreitetes Reisen verhinderte. Stattdessen wird die These untersucht, dass sich in dieser Zeit eine „Kultur der Bewegung“ („culture of movement“) entwickelt habe.Ortheil, Hanns-Josef
Schreiben und Reisen. Wie Schriftsteller vom Unterwegs-Sein erzählen.
in: Moennighoff, B./von Bernstorff, W./Tholen, T.(Hg.), Literatur und Reise. Hildesheim: Universitätsverlag (2013): 7-31.Schwara, Desanka
Unterwegs. Reiseerfahrung zwischen Heimat und Fremde in der Neuzeit.
Vorwort von Dan Diner. Diss. 392 S. Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht. Online
Wie wurden Heimat und Fremde in der Neuzeit erfahren? Die Historikerin geht der Fremdheitserfahrung in drei Jahrhunderten nach, am Beispiel von Habsburgermonarchie, Zarenreich und Osmanischem Reich.Andrea Zink
,Sonja Koroliov
(Hg.)
Unterwegs-Sein. Figurationen von Mobilität im Osten Europas.
(= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft/Slavica Aenipontana, 15) XVIII, 289 S. Abb., Innsbruck 2015: Institut für Sprachen und Literaturen der Universität. Inhalt
Die Gemeinsamkeiten im Unterwegs-sein
Es gibt Reisende und Fahrende, Wanderer und Pilger. Von Unterwegs-Seienden spricht man dagegen nicht. Menschen, die handelnd die obige Struktur durchlaufen, werden
- durch den Aufbruch zu Einzelnen, die ihre Gemeinschaft verlassen, denn auch wenn sie nicht alleine aufbrechen, lösen sie doch die meisten Bindungen und verlieren Sicherheiten;
- durch die Heimkehr zu Kundigen (auch: Trickster, Weiser Narr), deren veränderte Weltanschauung Befremden auslöst;
- durch den Verzicht zur Umkehr zum spirituellen Wanderer, zum Outlaw, zum Wilden Mann in der Wildnis oder zum Vagabunden (Kunden);
- durch die Wiederholung des Prozesses zum `berufenen´ Reisenden oder zum Fahrenden Volk mit seinen „unehrlichen“ Berufen.
Ein Lebensgefühl
»Ich höre nachts die Lokomotiven pfeifen, sehnsüchtig schreit die Ferne, und ich drehe mich im Bett herum und denke : „Reisen ...“« Kurt Tucholsky (1890-1935)
Wer unterwegs ist (lat. viamus), denkt nicht groß über diesen Reise-Zustand nach. Dieses Unterwegs-Sein nach der Rückkehr daheim leben zu wollen, ist symptomatisch für eine Ansteckung durch ein Reise-Virus (da gibt es unterschiedliche Formen). Manche sind immun dagegen, aber das ist nicht unbedingt ein Vorteil, denn »Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte« meinte Kurt Tucholsky
.
Dieses Lebensgefühl kann sehr unterschiedlichen Gruppen von Reisenden innewohnen und ist als sinnspendende Lebenslust bereits in der Antike bekannt:
Ubi bene, ibi patria. Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland. Cicero (römisch, 106-43 v. Chr.) zitiert Teukros, Tusculanae disputationes 5, 108 und ähnlich Aristophanes (griechisch, ca. 450 bis 380 v. Chr.), Plutos 1151
Daheim: Ein Hafen fürs Fernweh
Che Guevara
beschrieb die Rückkehr in die Heimat als Tod und Wiedergeburt und meinte »Ich bin nicht Ich«. Das Problem ist, dass Heimgekehrte und Zurückgebliebene sich in mancher Hinsicht nicht mehr verstehen. Der Reisende erzählt und die Zuhörer stülpen ein Stereotyp darüber, gegen das der Erzähler sich vergebens wehrt. Also sucht er Menschen, die ihn verstehen, findet zu Fernreisemobil- und Globetrottertreffen oder sucht Gleichgesinnte im Club. So lange er nicht unterwegs sein kann, sind »Globetrottertreffen die zweitschönste Art unterwegs zu sein« meint Günther Schumacher-Loose
und bilden einen Hafen fürs Fernweh. In Treffen und Clubs bildet sich eine Reiseszene kulturell aus; die sozialen Medien sind jedenfalls für die Reiseszene nachgeordnet, da ihnen das reisetypische Bewegen und persönliche Begegnen fehlt.
Vom Reisen erzählen: Geschichten und Geschichte
Die Vermittlung von Welt über Medien findet traditionell über Erzählen und über Literatur statt und erzeugt damit Bilder in der Vorstellung. Die besten Geschichten hört man in einer Runde Weitgereister am Lagerfeuer. Reiseliteratur entsteht, wenn das Erzähltalent ausgeprägt ist und das Bedürfnis, sein Erlebtes auszudrücken stark genug. Reiseliteratur ist erfolgreich, weil viele von einem solchen Unterwegs-Sein träumen, jedoch den Aufbruch nicht wagen. Reisebilder wirken natürlich noch besser. Zwar fällt mangelndes Talent schneller auf, jedoch übertrumpfen Bilder bei der Vermittlung über den Bildschirm den Text um ein Vielfaches.
Das Lebensgefühl des Unterwegs-Seins findet letztlich seinen zeittypischen Ausdruck insbesondere in den Genres Reiseliteratur, Road Movie, Road Music. Besondere Formen werden zur Mode und erzeugen einen Markt; hat es sich jedoch überlebt, ist es nur selten in Ausstellungen oder Museen zu bestaunen, weil es keine Erzählung mehr dazu gibt. Eine rote Linie des Unterwegs-Seins zeigt die Zeitleiste der Reisegenerationen.
Was ist Reisen? Was macht dieses Lebensgefühl von Reisenden aus? Der Versuch, seine Bedingungen und Voraussetzungen zu analysieren, findet Ansatzpunkte über:
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