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Wandern

Jeder wandert, jeder weiß es,
Doch es hält ihn auf den Straßen
Bis ihm durch die Nebelmassen
Scheu ein Licht blinkt wie ein leises
Hoffen und wie Zielerfassen,
Wie ein Ahnen jenes Preises,
Der als Schluß des Wanderkreises
Rückkunft heißt im Ruhenlassen:
Namenloser Gast ist jeder,
Bis den Namen er darf schreiben,
Nur ein Wort, ein Zug der Feder,
Dennoch Zeichen für ein Bleiben,
Selbstsichfindend, Ruh im Wandern
Bei dem Freund, das Ich im andern.
Hermann Broch (1886−1951) Eintrag in ein Gästebuch, 1939

Etymologie

`Wandern´ tritt neben die anderen 21 germanischen Nomina der Fortbewegung 1) und findet sich vergleichsweise selten im frühen Deutschen, Englischen (aengl. wandrian) und Altfriesischen (wondrian); in den slavischen Sprachen wendrowaz, wandrowasch, wandrati, im Böhmischen Wandrugi, wandrował, wandrowati 2). Möglicherweise ist es verwandt mit dem Altnordischen vǫndr 3) für ‘Stange, Want, Mast’. Vǫnd ist Adjektiv zu vandr ‘schwierig’, vǫndr bedeutet ‘Zauberstab, Veränderer’. Im Altnordischen wird vǫnsuðr mit Wanderer übersetzt, bildlich für `Der Schwingende´ 4). Dieselbe Vorstellung findet sich auch im Persischen und Arabischen (mosāfer مسافر von Musāfahat `die Flügel schwingen´) und im gleichnamigen I-Ging-Zeichen I-Ging-Zeichen 56: Der Wanderer 旅 lǚ.

Ursprünglich bedeutete `wandern´ ganz sachlich `einen geraden Weg zurücklegen´ mit einer Nebenbedeutung von `verändern´ im Sinne von `wandeln´ und `wenden´ als einem endlosen hin und her verbunden durch die Kehre (Umkehr, Rückkehr), vielleicht also an die Erfahrung des Gehens hinter dem Pflug zwischen den Gewänden der Ackerfläche sich anlehnend 5) so wie auch die `Fahrt´ an das Gehen in der Furche angelehnt ist, jedoch früh übertragen wird auf das Unterwegs-sein außerhalb der Gemeinschaft durch die Wildnis.

Bedeutungswandel

Das Verdrängen der Wildnis und das Wachsen der Städte mit einer überregionalen Infrastruktur ermöglichte neue Bedeutungsinhalte für `wandern´:

Der Wanderer in der Kunst

Quelle Zeit Titel Kategorie
Überlieferung vor 1070 The Wanderer altengl. Gedicht
Richard Savage 1726 The Wanderer Lyrik
J. W. von Goethe 1772 Wandrers Sturmlied Lyrik
J. W. von Goethe 1774 Der Wanderer Lyrik
Friedrich Hölderlin 1797 Der Wanderer Lyrik
Gebrüder Grimm vor 1834 Die beiden Wanderer Märchen
F. Nietzsche 1876 Der Wanderer Lyrik
F. Nietzsche 1884 Der Wanderer Lyrik
Knut Hamsun ab 1906 Wanderer-Trilogie Prosa

Literatur

siehe auch Literaturliste zum Fußreisen


engl. hiking
siehe *Fußreisen

1)
Winfried Breidbach: Reise - Fahrt - Gang. Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen. Peter Lang 1994 Diss. Köln
2)
Václav Jan Rosa: Thesaurus linguae Bohemicae
3)
vandar, dat. vendi/vǫnd; vendir, acc. vǫndu/vendi
4)
Þul Veðra 1 III/1; das Wort `Achse´ bedeutet schwingen, daher auch `Achsel´, weil die Arme beim Gehen schwingen
5)
Im Hunsrück besteht eine Kehr aus zwei Furchen. Grimm DWB Bd. 11, Sp. 400
6)
Härtling, Peter: Der Wanderer. München 2002: dtv, S.75. - Hier zitiert nach Allessandra Riva: Die Figur des Wanderers bei Peter Härtling, Universität Gießen 2004. pdf online